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Update

Deutsche Comic-Szene: Comicfestival München – eine Bilanz von A-Z

Vier Tage lang feierte die Szene das Comicfestival München. Eine subjektive Bilanz als Messe-ABC mit vielen Höhe- und auch ein paar Tiefpunkten.

A wie Alte Kongresshalle

Eine gute Wahl, dieser neue Veranstaltungsort für das Comicfestival München, das am Sonntag nach vier Tagen endete. Nach der unglücklichen Zweiteilung vor zwei Jahren, als sich vor allem Independent-Künstler und Kleinverlage an einem separaten und nur eingeschränkt nutzbaren Ort weitab vom Hauptgeschehen des Festivals wiederfanden, war es diesmal eine Freude, die Szene in ihrer Vielfalt komplett in einem großen Veranstaltungsbau zu erleben – siehe auch „I wie Independents“. Zwar fehlten einige Verlage und Indie-Vertreter diesmal aus Protest gegen die als ignorant empfundene Behandlung durch die Veranstalter vor zwei Jahren. Aber von den vielen Zeichnern und Kleinverlegern, die dem Festival doch noch mal eine Chance gaben, äußerten sich alle Befragten zufrieden mit dem neuen Veranstaltungsort – an dem dann beim nächsten Mal, 2017, hoffentlich auch die jetzt Abtrünnigen wieder mitmachen.

B wie British Invasion

Das Gastland Großbritannien hatte in diesem Jahr eine massive Präsenz – zur Freude vieler Fans, die nach den Gesprächsrunden und Autogrammstunden mit Stars wie Dave McKean („Arkham Asylum“), Eddie Campbell („From Hell“) oder Posy Simmonds („Tamara Drewe“) ganz beseelt waren. Auch die dazugehörige Ausstellung mit seltenen Originalen aus der Comicgeschichte war ein Fest fürs Auge. Allerdings hatte die Zusammenstellung der Exponate eine deutliche Schlagseite in Richtung Superhelden- und vergleichbare Mainstream-Comics vergangener Jahrzehnte, andere und neuere Strömungen der britischen Comiclandschaft blieben weitgehend außen vor. Natürlich ist es toll, mal die Originalseiten aus „Watchmen“ oder „V for Vendetta“ aus der Nähe betrachten zu können. Hätte man zudem ein ähnliches Augenmerk auf britische Independent-Künstler wie Oliver East, aktuell auch bei uns populäre Szene-Stars wie „Hilda“-Schöpfer Luke Pearson oder Festival-Gast Posy Simmonds mit ihren literarisch inspirierten Arbeiten (von der immerhin eine Seite in der Ausstellung zu sehen war) gelegt, wäre es für mich eine noch rundere Sache gewesen.

Alle unter einem Dach: Ein Blick in die Alte Kongresshalle, in der vom 4. bis 7. Juni das Comicfestival München stattfand.
Alle unter einem Dach: Ein Blick in die Alte Kongresshalle, in der vom 4. bis 7. Juni das Comicfestival München stattfand.

© Lars von Törne

C wie Cosplay

Im Programm war’s groß angekündigt, aber im Festivalalltag gingen die wenigen verkleideten Manga-, Anime und Game-Fans nahezu unter – von einer spektakulären Spinnen-Lady mal abgesehen. Wie generell die asiatisch inspirierte Comic- und Popkultur im Programm leider massiv unterrepräsentiert war – ein Grundmanko dieses Festivals wie auch des Comicsalons Erlangen. Manche der Veranstaltungen zum Thema verschlimmbesserten die Situation dann noch - siehe „M wie Moderationen“.

D wie Dreist

Die Geduld vieler Comiczeichner ist schon beachtlich. Mancher Sammler, der hier mit dem Skizzenblog fleißig handgezeichnete Originale einsammelt, bringt diesen Wunsch mit einem derart respektlosen Ton in der Stimme zum Ausdruck, als sei es sein verdammtes Grundrecht – auch gegenüber Zeichnern, deren Bücher er gar nicht kennt, sondern deren Strich nur als Trophäe für die Sammlung braucht. Und für manche der Besucher, die schon frühmorgens lange vor Saalöffnung mit ihren Rollkoffern voller zu signierender Bücher die Warteschlange anführen, ist es offenbar einfach ein Geschäftsmodell, die mit Originalen veredelten Werke kurz darauf meistbietend zu verscherbeln. Umso bewundernswerter, mit welcher Freundlichkeit die meisten Zeichner auch auf noch so forsche Forderungen reagieren – in Frankreich boykottieren manche Künstler diese Art von Impertinenz inzwischen.

E wie Entdeckungsreise

In Polen ist viel zu holen: Dass es in unserem östlichen Nachbarland eine vitale Comic-Szene gibt, war schon länger zu ahnen, denn immer öfter findet man auf internationalen Festivals polnische Zeichner und Verleger mit ihren Veröffentlichungen. Leider ist vieles davon ohne Polnisch-Kenntnisse aber nur schwer zugänglich. Die Zeitschrift „Strapazin“ hilft uns jetzt bei der Entdeckungsreise: Ihr Heft Nummer 119, das druckfrisch zum Comicfestival erschien und dort von einer Ausstellung begleitet wurde, ist aktuellen Comics aus Polen gewidmet. Zusammengetragen und eingeführt von Polen-Kenner Christian Maiwald, der auf seiner Website Dreimalalles.info schon manche schöne Empfehlung auch für andere Comic-Entdeckungsreisen gegeben hat. Im „Strapazin“ präsentiert er acht polnische Zeichner mit kurzen Auszügen aus ihren Arbeiten, dazu ein paar als Einführung hilfreiche interkulturelle Beobachtungen der teilweise in Polen lebenden Schweizer Zeichnerin Fanny Vaucher. Eine schöne Mischung: Autobiografische Episoden und surrealistisch angehauchte Zeitreisen, philosophische Erörterungen zur Subjektivität von Zeit und ein in Collagetechnik erzähltes modernes Märchen – das macht Lust auf mehr.

F wie Familientreffen

Hier sieht man sie wieder, all die Mit-Nerds und Festival-Freundschaften, die man zuletzt beim Comicsalon Erlangen oder auf anderen Festivals gesehen hatte, man tauscht den jüngsten Tratsch aus, feiert zusammen oder streitet sich ein weiteres Mal über szeneinterne Glaubensfragen, die Außenstehenden schwer vermittelbar sind. „Es ist manchmal nicht leicht mit einer Familie“, sagte Festival-Veranstalter Heiner Lünstedt denn auch in seiner launigen Ansprache bei der Gala zum Peng!-Preis (siehe auch „P“) – die von der Gala-Band passenderweise mit dem Beatles-Song „Come Together“ eingeleitet wurde. „Den einen mag man mehr, den anderen weniger, aber es gibt so etwas wie eine Comicfamilie, auf die man sich verlassen kann“, sagte Lünstedt. Zumindest meistens: Ein abtrünniger Verwandter klaute aus einer Festival-Ausstellung ein Original des Berliner Zeichners Reinhard Kleist, ohne dass es den sporadisch präsenten Aufsehern auffiel. Weitere innerfamiläre Entgleisungen wurden bis Redaktionsschluss nicht bekannt – über den auch hier wieder aufgeflammten Flügel-Streit der Comicforscher bereiten wir mal gnädig den Mantel des Schweigens.

G wie Gravett, Paul

Der Brite ist nicht nur ein begnadeter Autor und Comic-Experte, sondern war in München auch die gute Seele vieler gelungener Podiumsgespräche. Motiviert, interessiert, kenntnisreich, charmant, gut vorbereitet und in der Regel von guten Bilderschauen begleitet, machte er Begegnungen von ohnehin schon interessanten Künstlern wie Posy Simmonds und Barbara Yelin oder Dave McKean und Reinhard Kleist zu faszinierenden Exkursen in die Bilder- und Gedankenwelten seiner Gesprächspartner. Gravett zeigt, wie man derartige Runden spannend und lebendig präsentiert – ganz im Gegensatz zu einigen anderen Moderatoren des Festivals (siehe „M“).

H wie Hochschulen

Der akademische Comic-Nachwuchs von den Kunsthochschulen, von dem in den vergangenen Jahren viele kreative Impulse für den deutschen Comic kamen, war hier zwar nicht ganz so präsent wie beim Comicsalon Erlangen. Trotzdem gab’s an den liebevoll dekorierten Ständen der Kunsthochschulen ein paar schöne Entdeckungen zu machen. Mein Favorit: „Der Schreibtisch des Kommissars Lohmann“, die Abschlussarbeit von Michael Car an der Kunstschule Wien. In drei zusammenhängenden Publikationen im originalgetreuen Stil von Zeitschriften der 20er Jahre wird hier eine Geschichte aus jener Zeit erzählt – ein kunstvolles Lesevergnügen, das man zudem mit nicht sehr vielen Menschen teilen muss: Die handgefertigte Arbeit hat eine Auflage von gerade mal zwölf Stück.

I wie Independents

Der von Großverlagen unabhängige Teil der deutschen Comicszene blüht und gedeiht, dass es eine Freude ist – und war mit zahlreichen Ständen auf den beiden Etagen der Alten Kongresshalle diesmal angenehm selbstverständlicher Teil der Veranstaltung. Gut, Kleinverlage wie Zwerchfell und Schwarzer Turm, Zeichner wie Sarah Burrini und der Indie-Comic-Vertrieb Kwimbi fehlten, was schade war. Trotzdem gab’s auch diesmal wieder etliche Neuerscheinungen in Mini-Auflagen zu entdecken. Indie-Vertreter steuerten zudem einige der unterhaltsamsten Veranstaltungen bei, so die Comic-Battle-Lesung diverser Zeichner, die die Verleihung der Icom-Preise für Independent-Comics (siehe „P“) in einem herrlichen Happening enden ließ.

J wie Jugendförderung

Ein paar ganz nette Angebote für den comicinteressierten Nachwuchs gab es zwar, zum Beispiel die Workshops mit renommierten Zeichnern – siehe „V wie Versuch’s doch mal selbst“. Aber da geht noch mehr, wenn man die Kunstform Comic künftigen Generationen wirklich schmackhaft machen will. Wie wär’s mit Comic-Lesungen für Kinder, Lesezimmern mit kindgerechten Büchern, Spiel- und Bastelecken, wie man sie auf anderen Festivals zunehmend sieht?

K wie Kuratorisches

Bei den rund 30 Ausstellungen des Festivals war es wie mit einer Wundertüte: Auf den ersten Blick alles bunt und aufregend, aber bei genauerem Hinschauen verflog dann mancher Zauber ziemlich schnell. So gab es einerseits einige liebevoll kuratierte Schauen, bei denen die gezeigten Arbeiten –idealerweise Originalzeichnungen - angemessen präsentiert und durch begleitende Texte gut eingeordnet wurden. Das gilt, mit der unter „B“ genannten Einschränkung für die Hauptausstellung zu britischen Comics ebenso wie Satellitenausstellungen wie zum Beispiel die Schau „Gestrandet & Verwurzelt“ (siehe „Y wie Yelin, Barbara“) mit Comicreportagen aus München. Interessante Einblicke gab auch die Ausstellung mit Originalen und Werkstatt-Dokumenten von Reinhard Kleist – inklusive einiger fast fertiger Seiten zu seinem Erfolgsbuch „Der Boxer“, die mit roten Anmerkungen seiner Redakteurs gefüllt waren, als handele es sich um einen vom Lehrer korrigierten Schulaufsatz. Aus dieser Schau hätte man allerdings mit etwas mehr Hintergrundinformationen und Kontextualisierung noch mehr machen können. Wie auch aus der Ausstellung mit Arbeiten von Peng!-Lebenspreis-Empfänger Tomas Bunk, die zwar jede für sich ansehnlich sind, aber fast komplett ohne Einordnung in ihren Entstehungs-Kontext präsentiert wurden. Und dann gab es, am unteren Ende der Skala, leider auch etliche Mini-Ausstellungen, die aus kaum mehr als ein paar Ausdrucken bestanden, zu denen es keinerlei Erklärung gab. Das gilt zum Beispiel für die kleine Schau zum deutschen Endzeit-Action-Thriller „Gung Ho“, dessen Zeichentechnik so komplex ist, dass eine mit mehr kuratorischem Engagement aufbereitete Ausstellung sicher spannende Einblicke in den Produktionsprozess von Benjamin von Eckartsberg und Thomas von Kummant geben könnte. Tat sie aber nicht.

L wie Leidenschaft

Hui, das Titelbild der dritten Ausgabe von „Mondo“ hat’s schon mal in sich: Da sitzen zwei von Flix in seinem typisch knuffigen Stil gezeichnete Figuren, ein Mann und eine Frau, auf dem Boden und spielen mit einer Modelleisenbahn – gekleidet in knappem Sado-Maso-Bondage-Outfit. Das bringt das Thema des von Tim Gaedke herausgegebenen Heftes wunderbar auf den Punkt: Leidenschaft. Im Heft dann sieben Kurzgeschichten zu unterschiedlichsten Facetten des Themas, die allesamt von der tiefen Leidenschaft ihrer Autoren und Zeichner – Irina Zinner, Dominik Pete Wendland, Tim Gaedke, Schlogger, Jeff Chi, Karoline Pietrowski und Luke Pearson - für den Comic zeugen. Der zweite Band von „Mondo“ wurde auf dem Festival mit einem Icom-Preis geehrt (siehe „P“) – der neue Band ist ein sicherer Kandidat für künftige Ehrungen.

M wie Moderationen

Ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits bescherte der schier omnipräsente britische Comic-Journalist Paul Gravett (siehe „G“) dem Publikum viele höchst spannende Präsentationen, begleitet von genau abgestimmten Bildpräsentationen – wenn nicht gerade der Beamer wegen der Hitze streikte. Andererseits gab es Gesprächsrunden mit Künstlern und Autoren, die von Menschen moderiert wurden, die entweder keine große Lust dazu zu haben schienen oder zumindest keine Zeit für eine Vorbereitung hatten. Tiefpunkte war für mich das Podiumsgespräch mit Festival-Co-Veranstalter Wolfgang J. Fuchs zum Thema Deutsche Mangas, dicht gefolgt von einem Talk mit der neuen „Peanuts“-Zeichnern Vicki Scott. Das Manga-Gespräch mit den Szene-Stars Martina Peters und David Füleki eröffnete Fuchs – sonst als Comic-Autor eigentlich sehr geschätzt – mit dem Bekenntnis: „Wir haben kein Konzept.“ Aber das sei bei Comics und Manga ja generell so, dass man am Anfang ja auch „keine Vorstellung hat, was passiert“. Und dann hangelte er sich von einer lustlosen und von deutlichem Manga-Desinteresse geprägten Frage zur nächsten, sodass einem die beiden wackeren Podiumsgäste nur leidtun konnten. Und Bilder zum Thema gab’s schon gar nicht zu sehen: Der Beamer blieb aus, die Leinwand dunkel, sodass das Publikum nicht mal die Chance hatte, sich ein eigenes Bild von dem zu machen, worum es hier hätte gehen können. Das Gespräch mit „Peanuts“-Zeichnerin Scott war zwar inhaltlich etwas ergiebiger, weil sich Moderator Fuchs anders als bei den Manga-Gästen für das Thema offensichtlich interessiert. Aber auch hier wurde auf Bildpräsentationen verzichtet – und somit die Chance verschenkt, an konkreten Beispiel herauszuarbeiten, was denn nun das Besondere an Scotts umstrittener Wiederbelebung der klassischen Figuren und wie sie zeichnerisch einzuordnen ist. Da ist für 2017 noch viel Luft nach oben!

N wie Nächstes Mal

Das nächste Comicfestival München findet 2017 statt, und zwar vom 15. bis 18. Juni, wie Veranstalter Heiner Lünstedt mitteilt.

O wie Onomatopoesie

An Beispielen für schöne Soundwörter war auf diesem Festival naturgemäß kein Mangel. Mein Favorit stammt aus einem Strip von Tomas Bunk:

P wie Preisverleihungen

An zwei Abenden regnete es Auszeichnungen – und die Diskussion über die Entscheidungen der Jury dürfte sich vor allem beim Hauptpreis des Festivals, dem Peng!, noch lange hinziehen. Während einige Voten bei den versammelten Gästen der Gala am Samstagabend auf einhellige Zustimmung stießen, provozieren andere die Frage, wieso denn ausgerechnet DIESER Titel die Trophäe abräumte. Noch mehr Diskussionen und Irritationen provozierte allerdings die Moderation des Peng!-Abends. Hier dominierten neben Festival-Co-Veranstalter Heiner Lünstedt vor allem Claudia Schöne und der Schauspieler Hansi Kraus („Die Lümmel von der letzten Bank“) die Bühne – und kokettierten zu viel mit ihrer Ahnungslosigkeit in Sachen Comics. Das bescherte einige Fremdschäm-Momente und peinlich berührte Lacher. Zum Glück verschaffte David Füleki, mit dem Peng!-Preis für den besten deutschsprachigen Manga ausgezeichnet, mit einer spontanen Standup-Comedy-Dankesrede den Zuschauern komische Entlastung – dem Mann hätte ich (im Gegensatz zu den hauptamtlichen Rednern auf der Bühne) gerne noch länger zugehört.

Hier die Liste der Peng!-Nominierungen sowie die Sieger im verlinkten Überblick (darunter auch der Tagesspiegel für die „beste Comicberichterstattung“ – vielen Dank nochmal dafür!!), sodass sich einfach jeder Leser ein eigenes Bild machen kann:
Preis für “besondere Leistungen für die Münchner Comicszene”: ECKART SCHOTT / SALLECK PUBLICATIONS
Beste Neuveröffentlichung eines Klassikers: FLIEGENPAPIER von Hans Hillmann (Avant)
Beste Comic-Berichterstattung: DER TAGESSPIEGEL
Beste Comic-Sekundärliteratur: 75 JAHRE MARVEL von Roy Thomas (Taschen)
Beste Comicverfilmung: GUARDIANS OF THE GALAXY
Bester Online-Comic: BEETLEBUM von Johannes Kretzschmar
Bester Asiatischer Manga: DER GOURMET von Jiro Taniguchi (Carlsen)
Bester Deutschsprachiger Manga: 78 TAGE AUF DER STRASSE DES HASSES von David Füleki (Tokyopop)
Bester Nordamerikanischer Comic: HIER von Richard McGuire (Dumont)
Bester Europäischer Comic: DER SCHIELENDE HUND von Étienne Davodeau (Egmont)
Bester Deutschsprachiger Comic: IRMINA von Barbara Yelin (Reprodukt)
Preis für das Lebenswerk: TOM BUNK

Die Voten der Icom-Jury für die Würdigung der besten Independent-Comics, die am Donnerstagabend gefeiert wurden, provozierten hingegen keine kontroversen Debatten. Hier die Preisträger dieser Kür:
Der Preis für eine besondere Leistung ging an die Organisation "Comic Solidarity", die Webcomic-Zeichnern, Selbstverlegern und Independent-Comic-Künstlern eine Plattform bietet.
Der Sonderpreis für eine bemerkenswerte Comicpublikation ging an: "Ach, so ist das?!" von Martina Schradi, eine Sammlung biografischer Comicreportagen über das Selbstverständnis und die Erlebnisse von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transidenten, Transgender und Intersexuellen.
Der Preis für das beste Artwork ging an die Zeichnerin Yinfinity (Yi Luo) für "Die kleine blaue Melancholie".
Der Preis für das beste Szenario ging an Paulina Stulins "The Right Here Right Now Thing".
Tim Gaedkes "Insel Karkinos" wurde als bester Kurzcomic ausgezeichnet.
Und den ICOM-Hauptpreis für den besten Independent-Comic des Jahres bekam Maximilan Hillerzeder für "Als ich mal auf hoher See verschollen war" - mehr über diese Buch und andere Independent-Comics lesen Sie hier.
Hillerzeder bekam am Freitagabend außerdem den Lebensfenster-Preis für den besten Webcomic.

Q wie Qual der Wahl

Ein Gradmesser für die Qualität eines Festivalprogramms ist ja, wie viele Veranstaltungen man innerhalb der begrenzten Zeit, die das Ganze nun einmal dauert, am liebsten gleichzeitig besuchen möchte. Bei mir waren es im Schnitt zwei Veranstaltungen/Ausstellungen/Termine gleichzeitig, beim deutlich umfangreicheren Programm des alternierend mit München stattfindenden Comicsalons Erlangen ist mein Qual-der-Wahl-Faktor ungefähr doppelt so hoch mit in der Regel vier Verlockungen, die sich überschneiden. In beiden Fällen liegt die Zahl der spannenden Angebote über dem, was ein normaler Mensch in vier Tagen bewerkstelligen kann – und so muss es ja auch sein.

R wie Ruhepausen

Gab’s eindeutig zu wenig – siehe „Qual der Wahl“.

S wie Snoopy

Der Beagle war nicht nur auf den im Festival-Eingang zu kaufenden T-Shirts omnipräsent, sondern auch in einer Ausstellung zur Renaissance der Peanuts, 15 Jahre nach dem Tod ihres Schöpfers Charles M. Schulz. Ob das, was die US-Zeichnerin Vicki Scott und ihr Team da machen, ein Sakrileg ist oder die begrüßenswerte Wiederbelebung eines Klassikers für neue Lesergenerationen, wird wohl noch lange umstritten sein – Festivalgast Scott begegnete den vielfach geäußerten Vorbehalten allerdings mit so viel Charme und Offenheit, dass man ihr kaum böse sein kann – mehr dazu hier.

Onomatopoesie: Ein Panel von Tomas Bunk.
Onomatopoesie: Ein Panel von Tomas Bunk.

© lvt

T wie Tattoo

Gerade unter britischen Gästen waren einige sehr kunstvolle Tattoos zu bewundern, zum Beispiel bei dem bunt dekorierten Festival-Plakatzeichner Rufus Dayglo, der seit kurzem mit seiner Freundin in Berlin lebt. Die coolste Hautverzierung hatte allerdings Ehrengast Tom Bunk vorzuweisen: Ein aus grauer Vorzeit stammendes Tattoo auf dem Unterarm, das ziemlich selbstgemacht aussieht und die Farbpalette eines Malers zeigt, darauf der Schriftzug „Art“. Und der ist nicht etwa Art Spiegelman gewidmet, der Bunk 1983 nach seinem Wechsel von Berlin nach New York den Einstieg in die dortige Comicszene erleichterte, sondern es geht hier einfach um die Liebe zur Kunst. Unter diesem Link kann man seine Tätowierung sehen.

U wie Und was kommt jetzt?

Nach dem Comicfestival ist vor dem Comicsalon: Das nächste wichtige deutsche Comic-Großfestival findet vom 26. bis 29. Mai 2016 in Erlangen statt, die Organisatoren stecken schon mitten in den Vorbereitungen, wie man von den Machern erfahren konnte, die in München für eine Tagesvisite vorbeischauten.

V wie Versuch’s doch mal selbst

Die Zeichenworkshops zum Mitmachen sind eine gute Idee – und werden nicht nur von vielen Kindern dankend angenommen, die hier von Profis wie „Peanuts“-Zeichnerin Vicki Scott lernen, wie man Snoopy und Charlie Brown aufs Papier zaubert. Auch manche ältere Semester hatten hier ihren Spaß – wenngleich sich Charles M. Schulz angesichts des Selbstversuchs des Tagesspiegel-Berichterstatters im Grab umdrehen dürfte:

W wie Wiesn

Ein toller Nebeneffekt der neuen Festival-Location: Gleich nebenan gibt’s einen riesigen Biergarten, der in einen wunderschönen Park übergeht. Besser als hier unter schattigen Bäumen kann man sich zwischendurch vom Festivaltrubel gar nicht erholen! Leider gab’s vor lauter Programm zu wenige Gelegenheiten dazu.

X wie „X“

Seit zehn Jahren hauen die Macher der Comic-Anthologie „Jazam“ Jahr für Jahr einen Band mit Beiträge unterschiedlichster Zeichner heraus, von denen viele inhaltlich und formal auf höchstem Niveau sind. Diesmal lautet das von den Herausgebern Adrian vom Baur, David Koslowski, Nico Simon und Florian Steinl per Netz-Abstimmung ermittelte Thema, passend zum Zehnjährigen, schlicht: „X“. 260 Seiten, erstmals durchgehend farbig, randvoll mit 40 Kurzgeschichten, von denen fast jede ein Lesevergnügen ist und einen eigenen, originellen Dreh hat – und das alles für gerade mal 19 Euro, das ist schwer zu toppen. Und wer’s in München verpasst hat, kann sich dieses feine Werk natürlich noch bei seinen Machern besorgen: www.jazam.de.

Y wie Barbara Yelin & Co.

Die vor nicht allzu langer Zeit aus Berlin in ihre alte Heimat München zurückgezogene Zeichnerin und Autorin Barbara Yelin ist in diesem Jahr mit ihrem Buch „Irmina“ nicht nur die Gewinnerin des Peng!-Preises für den besten deutschsprachigen Comic (siehe auch „P“), der in der Alten Kongresshalle auch mit einer kleinen, leider etwas lieblos präsentierten Ausstellung gewürdigt wurde. Sie ist offenbar auch eine der treibenden Kräfte dahinter, beim Comicfestival nach den schlechten Erfahrungen der Vorjahre wieder mehr auf jungen, unabhängige oft noch nicht etablierte Künstler zuzugehen. Einer der interessantesten Beiträge zum Festival jenseits des zentralen Veranstaltungsortes war für mich die von ihr mitinitiierte Ausstellung „Gestrandet & Verwurzelt“ in dem charmant improvisiert wirkenden Zwischennutzungs-Kulturzentrum „Kösk“. Zwölf Zeichner/innen zeigten dort Kurzgeschichten oder Auszüge aus längeren Arbeiten, in denen es um denkbar unterschiedliche Beziehung der Menschen zu ihrer Stadt geht: Flüchtlinge und Taxifahrer, Workaholics und Angehörige der Schickeria. Von Yelin stammt in der Ausstellung und im dazugehörigen Katalog ein nachdenklicher Beitrag über Baulücken in der Stadt, den sie mit einem Ausflug in ihre eigene Kindheit verbindet. Und Uli Oesterle („Hector Umbra“) zeigte die ersten Seiten seiner nächsten großen Comicerzählung „Vatermilch“, die von der Biografie seines alkoholkranken Vaters inspiriert ist – sehr vielversprechend.

Z wie Zahlen, bitte!

Vielleicht lag’s am Wetter (hochsommerlich), vielleicht an der Weltpolitik (wegen des G7-Gipfels war die Münchener Innenstadt eine schwer zugängliche Festung), vielleicht hatte es andere Gründe: Unterm Strich besuchten das Comicfestival München in diesem Jahr offenbar gerade mal knapp 10.000 Besucher, wie Festivalleiter Heiner Lünstedt sagt – etwa 2000 weniger als vor zwei Jahren. Allerdings erscheint mir auch diese Zahl noch recht hoch, denn zu manchen Zeiten tummelten sich in der Alten Kongresshalle nur ein paar Dutzend Besucher. Von daher dürfte für die Besucherzahl gelten, was auch bei anderen Festivals mit undurchsichtiger Zählweise (mal werden verkaufte Tickets gezählt, mal jeder einzelne Zutritt zur Halle, und sei es der zwanzigste eines Viertage-Besuchers) zu beherzigen ist: Glaube keiner Besucherzahl, die Du nicht selbst erstellt hast.

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