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Vielschichtig: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Avant

Künstler-Comic: Einer flog übers Schtetl

Anspielungsreich, fantasievoll, tragikomisch: Joann Sfar interpretiert die Jugend Marc Chagalls im jüdischen Osteuropa.

Der Umfang seines Werkes ist erstaunlich. Seit 1994 hat der französische Comiczeichner Joann Sfar mehr einhundert Alben und Bücher veröffentlicht. Darunter befinden sich zahlreiche mehrteilige Serien, von denen hierzulande vor allem „Die Katze des Rabbiner“s und „Klezmer“ bekannt sind. Die jetzt im Avant-Verlag erschienene Graphic Novel „Chagall in Russland“ scheint da nur eine zwischengeschobene Arbeit zu sein. Doch weit gefehlt, denn obwohl der Comic unabhängig von den genannten Serien publiziert wurde, fügt er sich mit seiner neuerlichen Beschreibung jüdischer Lebenswelten beinahe nahtlos in das Gesamtwerk des Franzosen ein.

Im Mittelpunkt von Sfars neuem Werk steht der junge Marc Chagall, der am Ende des 19. Jahrhunderts in Witebsk, dem heutigen Weißrussland, aufwächst. Moische Chazkelewitsch Schagalow, so der ursprüngliche Name Chagalls, ist in ein Mädchen aus dem Schtetl verliebt und möchte sie heiraten. Doch es gibt ein Problem, denn der junge Marc will unbedingt Künstler werden. Kein Beruf also, mit dem man eine Familie ernähren kann, findet der Schwiegervater in spe und trägt dem jungen Marc auf, sich eine „anständige Arbeit“ zu suchen, bevor er um die Hand seiner Tochter anhalten darf.

So beschließt er, gemeinsam mit einem bärenstarken Schächter, einem Geige spielenden Soldaten, einer handvoll Kosaken und Jesus Christus, ein Theater zu gründen, dessen Direktor er ist. Marc legt viel Engagement an den Tag, immer darauf bedacht seine zeichnerischen Vorstellungen in die Bühnenbilder mit einfließen zu lassen. Doch schon bald bemerkt er, dass sein Herz nicht für das Theater schlägt; und das seiner Angebeteten nicht für ihn. Als er sie heimlich mit Tam dem Schächter beobachtet, kommt der buchstäbliche Absturz. Marc fällt vor Schreck von einer Leiter und bricht sich die rechte Hand, seine Zeichenhand. Das Ereignis führt dem jungen Künstler vor Augen, dass sein Lebenstraum in Gefahr ist. Die Theaterpremiere will er ausfallen lassen, um sich ganz auf seine Kunst und den geplanten Umzug nach Paris zu konzentrieren. Doch als erneut Kosaken ins Schtetl einfallen, gerät auch dieser Plan in Gefahr.

Chagalls Biografie diente Joann Sfar in erster Linie zur Inspiration, weniger zur faktischen Grundlage. So erzählt er seine Geschichte vom werdenden Künstler auf fast schon klassische, tragikomische Weise. Abgesehen vom Ende hält der Plot relativ wenige Überraschungen parat. Die Originalität dieses Comics liegt vor allem in seinem Zeichenstil, der trotz seiner klaren Linie ein Höchstmaß an Diffusem erzeugt. So changiert der zumeist krakelig nervöse Duktus zwischen kindlicher Naivität und zugespitzter Satire, bei der ein kräftiger Schuss Selbstironie gegenüber jüdischen Schrullen keinesfalls fehlt.

Unverkennbarer Stil: Das Covermotiv des Buches.

© Avant

Hat man sich erst einmal auf Sfars Stil eingelassen, lässt sich „Chagall in Russland“ als anspielungsreiche Lektüre genießen. So werden unter anderem der Kampf zwischen realistischen und idealistischen Lebensweisen, der Sinn und Unsinn von Klischees und sogar eine Theatertheorie thematisiert. All das gibt zu verstehen, dass sich die Moderne allmählich auch im entlegenen Osteuropa ankündigt. Welche individuellen Schrecken diese mit sich bringen kann, weiß Joann Sfar aus der Rückschau zu berichten. So ist „Chagall in Russland“ nicht nur das fantasievolle Spiel eines Comiczeichners mit einer Künstlerbiografie, sondern auch ein Spiegel jüdischen Lebens auf der Schwelle zu einer neuen Zeit.

Joann Sfar: Chagall in Russland. Avant, 128 Seiten, 19,95 Euro.

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