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Eine Szene aus dem Sammelband mit Ukraine-Comics.

© Moga Mobo

Gezeichnete Kriegstagebücher aus der Ukraine: Ein Riss geht durch die Menschen

In der Berliner Comic-Anthologie „Moga Mobo“ erzählen ukrainische Zeichner vom Alltag im Ausnahmezustand.

Die Szene erinnert an eine Schlange, die ihre alte Haut abstreift. Im ersten Bild sieht man einen jungen, freundlich dreinblickenden Mann mit Hipster-Bart und rosa Jacke. In seinen fragil aussehende Händen hält er ein niedliches Hündchen und einen dampfenden Kaffee –  eine friedliche Szene.

Doch im zweiten Bild geht ein Riss durch die Figur, die sich anfangs als gelernter Web-Designer vorgestellt hat. Das Hündchen und der Coffee-to-go-Becher fallen zu Boden, aus der Hipster-Hülle schält sich ein Soldat in Kampfanzug, der ein Gewehr in der Hand hält und den Betrachter mit grimmig-traurigem Blick fixiert.

Eine Seite aus dem Beitrag von Yulia Tveritina, der den Titel trägt: „Falls wir dann noch wissen wie“.
Eine Seite aus dem Beitrag von Yulia Tveritina, der den Titel trägt: „Falls wir dann noch wissen wie“.

© Moga Mobo

In wenigen Panels vermittelt die ukrainische Illustratorin Yulia Tveritina, wie aus Zivilisten Soldaten werden – eine Transformation, die seit dem Angriff Russlands vor gut eineinhalb Jahren mehr als 100.000 Menschen in der Ukraine am eigenen Leib durchlaufen haben. Die Sequenz der Zeichnerin findet sich in der aktuellen Ausgabe der rund einmal jährlich erscheinenden Berliner Comic-Anthologie „Moga Mobo“.

Unter dem Titel „Im Osten nichts Neues“ bietet sie diesmal rund zwei Dutzend Zeichnerinnen und Zeichner aus der Ukraine ein Forum.

Das Cover des Sammelbandes hat Titus Ackermann gezeichnet.
Das Cover des Sammelbandes hat Titus Ackermann gezeichnet.

© Moga Mobo

„Der Krieg scheint eine Maschine zu sein, die sich selbst nährt“, schreibt Herausgeber Titus Ackermann, einer der „Moga-Mobo“-Gründer, im Vorwort. Gut ein Jahr nach Beginn des Angriffskrieges habe er das Gefühl, dass die Menschen hinter den Nachrichten oft „nicht mehr wirklich zu sehen“ seien: „Die Menschen, die unverschuldet in etwas hineingezogen wurden, das für sie noch vor ein paar Monaten unvorstellbar war.“

Das Buch gibt es gratis in Comicläden

Diese Menschen und ihre Geschichten soll der Sammelband sichtbar machen. Derzeit wird das knapp 100 Seiten starke, durch Anzeigen finanzierte Buch gratis in mehreren Berliner Comicläden und anderen Szene-Treffpunkten verteilt, wie es bei „Moga Mobo“ Tradition ist. Gegen einen geringen Unkostenbeitrag kann man es auch auf der Website der Zeichnergruppe bestellen.

Oleg Gryshchenk erzählt in seinem Beitrag „Kolya Mamay“ im Stil ukrainischer Volksmalerei von einem Cousin, der nicht mehr von der Front zurückkehrte.
Oleg Gryshchenk erzählt in seinem Beitrag „Kolya Mamay“ im Stil ukrainischer Volksmalerei von einem Cousin, der nicht mehr von der Front zurückkehrte.

© Moga Mobo

Die inhaltliche Bandbreite der ausgewählten Comic- und Illustrationsbeiträge ist so beeindruckend wie ihre fast durchweg hohe zeichnerische Qualität. Die meisten der Beteiligten sind professionelle Illustratoren oder Designer, manche konnte man bereits in zwei Sammelbänden mit Comics und Illustrationen aus der Ukraine kennenlernen, die 2022 auf Deutsch veröffentlicht wurden.

Während damals in vielen Beiträgen der russische Angriff am 24. Februar 2022, dessen unmittelbare Auswirkungen und die Vorgeschichte im Zentrum vieler Beiträge standen, vermittelt der neue, zwecks internationaler Zugänglichkeit weitgehend auf Englisch verfasste Sammelband ein Gefühl davon, wie der anhaltende Krieg das Leben der Menschen inzwischen grundlegend verändert hat.

Ein Ausschnitt aus der Kurzgeschichte „Verhalten bei einem Blackout“ von Seri/graph studio.
Ein Ausschnitt aus der Kurzgeschichte „Verhalten bei einem Blackout“ von Seri/graph studio.

© Moga Mobo

Die Zeichnerin Tania Kremen erzählt in einer mit wenigen, kargen Strichen skizzierten Bildfolge davon, wie alltäglich in der Ukraine inzwischen die Begegnung mit jungen Männern geworden ist, denen Beine amputiert worden sind. Ein in tiefem Schwarz mit wenigen Lichtpunkten gezeichneter Beitrag des Ser/graph-Studios vermittelt anschaulich, wie sich die Menschen an die kriegsbedingten Stromausfälle gewöhnt haben und damit umgehen. Eine weitere Geschichte desselben Studios handelt von der Unmöglichkeit, in Kriegszeiten einen unbeschwerten Geburtstagsausflug aufs Land unternehmen zu wollen.

Gestohlene Lebenszeit

Mehrere Comic-Episoden vermitteln Impressionen aus dem Soldaten-Alltag. Anna Sarvira, eine der profiliertesten Illustratorinnen der Ukraine und Mitbegründerin des Netzwerks Pictoric, sinniert in einer einseitigen Sequenz, die vom Wiedersehen mit ihrem als Soldat kämpfenden Bruder handelt, über die Lebenszeit, „die Russland uns gestohlen hat“.

Zhenya Oliinyk, von der der Beitrag „Kiew geht es gut“ stammt (hier eine Szene daraus), wird am 16. September beim Literaturfestival ilb zu Gast sein.
Zhenya Oliinyk, von der der Beitrag „Kiew geht es gut“ stammt (hier eine Szene daraus), wird am 16. September beim Literaturfestival ilb zu Gast sein.

© Moga Mobo

In einem besonders erschütternden Beitrag von Katerina Sergatskova und Maria Petrova erzählt eine Mutter, wie sie erfuhr, dass ihr Sohn in Butscha von russischen Soldaten gefoltert und getötet wurde. Während ihrer Schilderung ist in den meisten Panels ihr gezeichnetes Gesicht zu sehen, in dem sich ablesen lässt, was in ihr vorgeht. Andere Episoden sind weniger nah dran an den Menschen und nutzen Motive klassischer Märchen, ukrainischer Volkssagen und in einem Fall auch von „Herr der Ringe“, um etwas vom Kampf der Ukrainer zu erzählen.

Am Ende des Sammelbandes vermittelt Zeichner Konstantin Sokolovsky einen Hauch Optimismus. „Ukraine 2029“ heißt sein in poppigen Farben gezeichneter Beitrag: In sechs Jahren, so vermittelt es die Geschichte, sind die heute in der Ukraine ständig zu hörenden Explosionsgeräusche nur noch ein Alptraum. Aus dem erwacht seine Hauptfigur und schaut auf eine von fröhlichen Menschen bevölkerte Science-Fiction-Stadt, in der es nicht mehr um Leben und Tod geht, sondern um unbeschwerte Urlaubspläne, eine friedliche Innenpolitik und ein glückliches Miteinander der Menschen.

Beim Literaturfestival Berlin wurde das Projekt kürzlich vorgestellt von Herausgeber Titus Ackermann, der dem Band einen anschaulich verdichteten Abriss der Geschichte der Ukraine in Comicform vorangestellt hat, sowie zwei ukrainischen Gästen: Neben der Zeichnerin Zhenya Oliinyk, deren schwarz-weiße Kurzgeschichte „Kiew geht es gut“ grafisch reduzierte, ironisch gebrochene Impressionen des Alltags im Ausnahmezustand vermittelt, gab auch die Journalistin Katerina Sergatskova Einblicke in die Arbeit an dem Sammelband und die Lage in ihrem Land.

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