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Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Eine Seite aus dem besprochenen Album.

© Illustration: Fior/Avant

Grafische Novelle: Luder, nicht Dirne

Manuele Fiors „Fräulein Else“ ist die elegante Adaption eines Klassikers und ein visuelles Fest für Freigeister.

Der fortschreitende Kennzeichnungsfetisch manch eines in der Comicproduktion tätigen Verlags hat ja schon  Spott und Häme, aber auch für ein Nachdenken über Alternativen provoziert. Natürlich ist das inzwischen omnipräsente Label „Graphic Novel“ als Türöffner für den immer noch sehr traditionellen deutschen Buchmarkt sinnig und nachvollziehbar, aber es gibt auch andere Wege, graphische Literatur zu bewerben - ganz ohne dabei anbiedernd zu wirken, denn weshalb soll sich das narrative Potential der Kunstform Comic stets nur im Schatten der älteren Form bewegen statt sich eigenständig zu entfalten?

Manuele Fior beispielsweise untertitelt seinen aktuellen Comic „Fräulein Else“ einfach mit dem Hinweis auf das zu Grunde liegende Werk, welches von ihm in seiner unnachahmlichen Direktcolorierung von Aquarellfarben adaptiert wurde. Novelle, dieses kleine Wort findet sich dort. Klar, kann man dies auch als bildungsbürgerliche Etikettierungsverweigerungsstrategie abqualifizieren, aber wer will denn so bissig sein?

Diese graphische Literaturadaption illustriert eines der bekanntesten Werke des Wiener Modernisten Arthur Schnitzler und bezaubert durch den Kunstgriff der Sichtbarmachung der Inneren Monologe - diesen markantesten Stilmittel Schnitzlers. Sanft eingebunden in das Design der kunstvoll ausgestalteten Seiten schwebt diese Erzählperspektive mit - ganz ohne sperrig oder bemüht zu wirken. Das Nebeneinander von Sprachlichkeit und Bild wird hier erneut dynamisiert und die ohnehin ausgesprochen bildhafte und kraftvolle visuelle Sprache Schnitzlers wirkt in dieser Medienform mehr als vorteilhaft.

Der Griff zur Veronalflasche wird zur Gewohnheit

Anhand der Überkreuzung und gleichzeitigen Darstellung der arglosen und friedlichen Tagtraumsequenzen und den schwierigen psychologischen Befindlichkeiten der Protagonistin wird das komplexe persönliche Dilemma dieser jungen Frau eindrücklich illustriert, welche durch ihre Familienbande gezwungen wird, den drohenden Bankrott ihres Vaters (auch gegen ihren Willen) zu verhindern.

Einheit aus Text, Bild und Farbe. Eine weitere Seite aus dem Buch.
Einheit aus Text, Bild und Farbe. Eine weitere Seite aus dem Buch.

© Illustration: Fior/Avant

Sie sieht sich durch den subtilen gesellschaftlichen Druck gezwungen, den Avancen des reichen Kunstsammlers Dorsay nachzugeben, ein Vorgang, welche im klaren Gegensatz zur ihrem eigenen Lebensentwurf steht. Denn Fräulein Else versteht sich als sexuell durchaus aktive Frau, welche Körperlichkeiten verschenkt möchte, anstelle sie mit Geldwerten entlohnen zu lassen – „Luder will ich sein, nicht Dirne“. In diesen wenigen Worten bringt sie ihren Konflikt auf den Punkt.

Während des Versuchs, ihren progressiven Wunsch nach Autonomie aufrechtzuerhalten, kollidiert sie mit den traditionellen Anforderungen ihrer Epoche und dem Wunsch ihrem Vater eine treue Tochter zu sein - koste es was es wolle. Fortschreitende mentale Ausnahmezustände sind die Folge, der Griff zur Veronalflasche wird zur Gewohnheit, die Todessehnsucht wächst - bis hin zu dem erschreckenden Ende der Geschichte.

Ein präzises psychologisches Kammerstück

Fiors Strich und Seitenlayout wird den komplexen Inhalten der Novelle mehr als nur gerecht, durch die parallele Präsentation von Wort und Bild gelingt ihm nicht nur eine elegante Adaption des Stoffes, sondern ein tatsächliches Überführen des Textgeflechts in die Mischform aus Text, Bild und Farbe.

Ja, graphische Literatur muss nicht zwangsläufig als selbige gekennzeichnet werden, manchmal genügen eine eigenständige Vision und ein eigenes Formverständnis, um eine künstlerisch anspruchsvolle und geschickte Aufarbeitung des präzisen psychologischen Kammerstücks Schnitzlers zu liefern. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Fior 2009 für diese Adaption mit dem renommierten „Großen Preis der Stadt Genf“ ausgezeichnet wurde.

„Fräulein Else“ ist sicherlich kein Blindkauftitel für klassische Comicfreunde und wahrscheinlich auch zu bebildert für den reinen Büchermenschen, aber ein visuelles Fest für alle Freigeister dazwischen.

Manuele Fior: Fräulein Else, 88 Seiten, 19,95 Euro Avant Verlag, mehr Informationen und Leseprobe unter diesem Link.

Die Tagesspiegel-Rezension zu Manuele Fiors in Berlin entstandenem Werk „Menschen am Sonntag“ finden Sie unter diesem Link.

Mehr von unserem Autor Markus Dewes finden Sie auf seinem Blog derdigitaleflaneur.blogspot.com, mehr seiner Beiträge für den Tagesspiegel gibt es unter diesem Link.

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