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Indiz für Indiz: Eine Seite aus dem besprochenen Band.

© Reprodukt

Kunst-Comic: Hinter den Spiegeln

Marc-Antoine Mathieus „3 Sekunden“ ist Vexierspiel, philosophische Tüftelei - und eine der klügsten Reflexionen über Erkenntnistheorie und Konstruktivismus der Comicgeschichte.

Die Wahrheit liegt im Detail. Hinter den Dingen, in der Tiefe – auch der des Bildes, wie jeder Cineast seit Antonionis „Blow Up“ weiß. Jenem Film aus dem Jahr 1966, in dem ein Fotograf durch die immer weitere Vergrößerung einer Aufnahme schließlich in den unscharfen Bildpunkten einen Mord entdeckt.

Auch der Zeichner Marc-Antoine Mathieu sucht in „3 Sekunden“ die Wahrheit im Detail. 67 Seiten lang, in 602 gleichgroßen Panels zoomt er unseren Blick aus einem schwarzen Nichts in ein Bild, das mittels diverser Spiegelungen immer neue offenbart: In einer Pupille spiegelt sich ein Handy, in dessen Linse ein Spiegel, in dessen Glas eine Vase, in deren Oberfläche eine Puderdose und so weiter. Kreuz und quer führt Mathieu durch Räume, Straßen, eine Stadt, schließlich das All und zurück an den Ausgangspunkt und in ein unendliches Weiß.

Was als selbstgenügsames, kunstvolles Vexierspiel allein schon beeindruckend wäre, erzählt jedoch auch eine Geschichte. Hinter jeder reflektierenden Oberfläche verbergen sich weitere Informationen, aus denen ein aufmerksamer Beobachter Indiz für Indiz einen Kriminalfall zusammenpuzzeln kann. Schlagzeilen, an denen vorbeigeflogen wird, geben Informationen über eine Verschwörung preis. Flugtickets, die vorbeiflattern, verraten Namen. Vorbeirauschende Werbetafeln erzählen, wer da eigentlich in den Bildern mit wem zusammentrifft. Gesprochen wird in dem Buch nämlich kein einziges Wort. Stumm stehen die hart kontrastierten Schwarz-Weiß-Bilder für sich selbst – und wandeln doch permanent ihre Bedeutung. Dadurch wird „3 Sekunden“ – so lange dauerte die Sequenz, die Mathieu bebildert, in Echtzeit – auch noch zu einer philosophischen Tüftelei, zu der der französische Autor schon in früheren, mit Form und Formaten spielenden Büchern wie „Der Wirbel“, „Tote Erinnerung“ oder „Die Zeichnung“ anregte. Mit jeder Spiegelung ermöglicht der veränderte Blickwinkel neue Deutungen des bereits Gesehenen. Erkenntnis ist auch hier vor allem eine Frage der Perspektive.

Im Auge des Betrachters: Das Covermotiv.

© Reprodukt

Wie Mathieu dabei mit Erwartungen spielt, ist ein Spaß, der mit wiederholter Lektüre nicht abnimmt, sondern im Gegenteil wächst. Selbst beim vierten und fünften Lesen finden sich immer neue Details, die aus der bis ins Kleinste durchkomponierten Versuchsanordnung auftauchen und neue Bewertungen erlauben.

Parallel zum gedruckten Band lässt sich die Kamerafahrt übrigens auch im Internet als Trickfilm verfolgen (Adresse und Passwort finden sich im Buchdeckel). Es lohnt sich, die beiden Versionen zu vergleichen. Eindrücklich wird dabei vor Augen geführt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung bei einem selbst- oder fremdgesteuerten Lesefluss funktioniert. Dass diese Reflexion über Erkenntnistheorie und Konstruktivismus keine Mühe, sondern Freude macht, ist ein weiterer Beweis für die Könnerschaft des Künstlers. Ein klügeres Bilderbuch hat man lange nicht mehr in der Hand gehalten.

Marc-Antoine Mathieu: 3 Sekunden, Reprodukt, 80 Seiten, 18 Euro

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