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Mauern überall. Eine Szene aus dem Buch.

© Stéphane Poulin

Interview: „Die Mauer ist ein Symbol für den Schrecken - und für die Erlösung“

Die grafische Erzählung „Im Land der verlorenen Erinnerung“ von Stéphane Poulin und Carl Norac handelt von Freiheit, Unterdrückung und der Kraft der Träume. Und ein bisschen auch von Berlin, wie der Künstler im Interview erzählt. 

Die gemalte Bildgeschichte „Im Land der verlorenen Erinnerung“, die jetzt auf Deutsch bei Jacoby & Stuart erschienen ist (128 S., 24 Euro), ist eine poetische Parabel über Freiheit, Unterdrückung und die Kraft der Fantasie – und eines der schönsten Bücher des Jahres. Ein bandagiertes Fabelwesen erwacht darin aus dem Koma. Die Welt ist ein bedrohlicher Ort, eigene Gedanken werden bestraft. Bis etwas Magisches passiert. Stéphane Poulins Bilder und Carl Noracs – stellenweise allerdings etwas sehr pathetische – Texte ergeben eine vielschichtige Erzählung. Und immer wieder scheint Berlin durch, wo der Künstler einst Ideen sammelte. Was er dort erlebte und wie er sein Buch erarbeitet hat, erzählte Poulin kürzlich im Gespräch mit seinem Verleger Edmund Jacoby. Wir dokumentieren das Interview.

Edmund Jacoby: Die Stadt im Land der verlorenen Erinnerung, ist sie von einer bestimmten Stadt inspiriert wie Montreal, Berlin, Paris oder London?

Stéphane Poulin: Für mich kam es darauf an, eine „westliche“ Stadt darzustellen, denn die demokratischen Werte des Westens werden heute radikal in Frage gestellt. Es sind Städte wie Montréal, Berlin, Paris, London, New York und manche andere. Es sind moderne Städte, in denen Weiße leben.

Und der Hass, der dort herrscht, und die Gewalt, die dort ausbricht, ist das am ehesten mit dem zu vergleichen, was sich gerade in England abgespielt hat und vor zwei Jahren in den Vorstädten von Paris – oder ist es eher die Atmosphäre des Kalten Krieges zwischen West und Ost, für den die Berliner Mauer das Symbol ist?

Was ich anklage, ist der Rassismus - Hunde gegen Katzen - die soziale Ausgrenzung  - die Mauer - und die durch die staatliche Kontrolle - die Polizei - erzeugte Atmosphäre der Gewalt. Und ich wollte auch auf die Mauern hinweisen, die in immer größerem Maße um uns herum entstehen. Vor allen anderen ist da die Berliner Mauer, die zu einem Symbol für den Schrecken schlechthin geworden ist, aber auch zu einem Symbol für die Möglichkeit der Erlösung daraus. Für mich ist die Geschichte dieser Mauer für alle Völker von Belang.

Die Berliner Gethsemane-Kirche stand Pate für diese Szene.
Die Berliner Gethsemane-Kirche stand Pate für diese Szene.

© Stéphane Poulin

Der Katzen- oder Hundemensch namens Rousseau, der Held Ihrer Geschichte, ist eine Retter- oder Erlöserfigur. Wer war das Vorbild dafür?

Die Hauptperson des Buchs geht vor allem auf den Philosophen Jean-Jacques Rousseau zurück. Ich habe immer die Versicherung Rousseaus geliebt, die da lautet: „Der Mensch wird gut geboren; es ist die Gesellschaft, die ihn verdirbt.“ Ohne ganz und gar diesen Satz unterschreiben zu können, mag ich doch die Hoffnung, die mit ihm verbunden ist. Ich glaube, dass diese verdorbene Gesellschaft ein Ebenbild der Menschen ist, aus denen sie besteht. Wir sind die Träger der herrschenden Werte. Aber deshalb haben wir auch die Wahl; wir können wollen, dass etwas Anderes entsteht. Der Rousseau in meinem Buch verkörpert diese Hoffnung. Er ist nicht Gandhi, denn er hat keine spirituelle Botschaft. Er ist auch nicht Jesus. Er ist einfach ein „Mensch“ wie du und ich, mit einem leeren Gedächtnis, in dem noch nichts festgeschrieben ist. „Der Mensch wird gut geboren ...“ Es gibt auch eine gewisse Ähnlichkeit mit den Superhelden amerikanischer Comic Books. Der Superheld ist zunächst ein ganz gewöhnlicher Mensch, dessen natürliches Gleichgewicht durch einen Unfall oder eine besondere Herausforderung verloren gegangen ist und der dadurch andere Fähigkeiten erworben hat. Er entdeckt in sich eine Kraft, die ihn von anderen unterscheidet. Und diese „neue Kraft“ kann Gutes oder Böses schaffen. Auch hier geht es um das Potential, das in uns allen steckt. Ein anderes wichtiges Charakteristikum des Superhelden ist, dass er seine außerordentlichen Kräfte unbedingt geheim halten muss. Und so verkleidet er sich. Er trägt eine Maske. Deshalb trägt Rousseau seine Bandagen. Was seine besonderen Fähigkeiten anbetrifft, so bestehen sie darin, dass er großes Mitgefühl mit denen hat, die leiden. Eine Art Hypersensibilität, die ins Herz der Menschen dringt. Und die durch Mauern dringt ... Rousseau ist auch inspiriert durch den Elefantenmenschen von David Lynch.

Als die Bilder für ihren Roman in Bildern entstanden, von denen jedes ein Gemälde für sich ist, hatten Sie da schon das vollständige Buch im Kopf?

Nein, ich hatte nur eine allgemeine Vorstellung, ein grobes Szenario. Es bestand zunächst nur in dem Ereignis, mit dem alles anfängt, der Bombe, dem Erwachen unseres Helden in einer chaotischen und gewaltsamen Welt und seinem Willen, etwas zu ändern. Klar war für mich auch, dass er am Ende seine wirkliche Identität entdecken sollte. Was dazwischen liegt, hat Carl Norac sich ausgedacht. Er hat mir seine Ideen mitgeteilt, dann haben wir darüber diskutiert und schließlich hat er die endgültige Version aufgeschrieben. Zuerst habe ich mehr als anderthalb Jahre damit zugebracht, die ganzen Comic Strips, also die Folgen der kleinen Bilder mit dem Stift vorzuzeichnen. Die habe ich Carl dann zur Inspiration geschickt. Dann haben Carl und ich diese Strips über die Erzählung verteilt, als so etwas wie „Ruhepunkte“. Zunächst wollte ich nur, dass  Carl genügend Platz für seinen Text hatte, damit er sein Talent entfalten konnte. Später dann habe ich diese Räume ohne Worte geschaffen, damit die Worte sich besser einprägen konnten.  Die graphische Gestaltung des Buchs kommt allein von mir. Ich habe ein vollständiges Exemplar des Buchs in Schwarz-Weiß angefertigt, das wir dann vorgezeigt haben. Die Leute von Sarbacane, meinem französischen Verlag, haben alles so akzeptiert und nichts geändert. Es sind bemerkenswert taktvolle Menschen.

Von Berlin isnpiriert: Stéphane Poulin.
Von Berlin isnpiriert: Stéphane Poulin.

© Sarbacane

Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Carl Norac?

Ungewöhnlich bereichernd. Das Buch ist eine wechselseitige Hommage an unsere Freundschaft und die Bewunderung, die wir für einander empfinden. Es hat Spaß gemacht, etwas zusammen zu machen, und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.

Auf einem der großen Bilder sieht man ein Ladenschild mit dem Namenszug „Kreutziger“. Das ist der Name eines Berliner Künstlers. Ist das eine Hommage an ihn?

Gerade darüber kann man auch den Namen „Julia“ lesen, auf dem Schild mit dem Straßennamen. Das Bild ist für Julia Kreutziger. Julia war eine junge Studentin aus Ost-Berlin, die 2006 nach Montréal kam, um Politikwissenschaft an der McGill-Universität zu studieren. Julia mietete ein Zimmer über unserer Wohnung, und wir wurden Freunde gleich nach der ersten Begegnung. Im Laufe der folgenden Monate haben wir viel über Deutschland gesprochen, über die Mauer und die zerbrochenen Lebensperspektiven ...   Da Julia sich manchmal bei uns langweilte, haben wir uns angewöhnt, „deutsche Abende“ zu veranstalten. Wir haben zusammen kleine Gerichte gekocht, dazu Wein und Bier getrunken und uns deutsche Filme angeguckt, mit Untertiteln für meine Lebensgefährtin und mich. Julias Brüder Jörg, den Berliner Künstler, von dem Sie gesprochen haben und mit dem ich bis heute korrespondiere, habe ich erst später kennen gelernt. Im folgenden Jahr nämlich sind Christine und ich nach Berlin gekommen, und wir hatten das Glück, Jörg und Julias Eltern kennen zu lernen.

Aus Berlin stammt auch der Kirchturm, der in Ihrer Geschichte eine Rolle spielt, der Turm der Gethsemane-Kirche. Wie kommt der da hinein?

Die Kirche befand sich gerade gegenüber von Julias Wohnung, in der wir sie besuchten. Julia hat sie gern bei unterschiedlichem Licht fotografiert.

Eine Mauer durchzieht das Land der verlorenen Erinnerung. Ist das nur eine Anspielung auf die Berliner Mauer oder auch auf andere Mauern?

Ja, zunächst einmal ist es die Berliner Mauer. Aber dann auch die zwischen Israel und den Palästinensergebieten und die zwischen den USA und Mexiko. Vor allem aber symbolisiert die Mauer die wachsende Intoleranz ...

Wann waren sie in Berlin und für wie lange?

Das war im Juni 2007. Wir sind ungefähr eine Woche geblieben und in dieser Zeit quer durch Deutschland gereist. Deutschland und seine Bewohner haben uns sehr gut gefallen.

Wer sollte Ihr Buch nach Ihrer Meinung vor allem lesen, und was soll er aus der Lektüre mitnehmen?

Das Buch richtet sich an jede Sorte Leser ab zwölf Jahren. Es handelt von Krieg und Hass, aber auf eine poetische Weise. Poesie kann Gefühle deshalb besonders gut beschreiben, weil sie auf die Schilderung von Fakten und Gründen verzichtet. Diese Gefühle stecken in uns und sind über kulturelle oder ideologische Grenzen hinweg verständlich.

Werden Sie wieder nach Deutschland kommen?

Ich würde gern Julia und ihre Familie wieder sehen ... Und das Leben ist voller Überraschungen!

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