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Tummelplatz für Exzentriker: Eine Seite aus "Der Jude von New York".

© Avant

Ben Katchor: "Wir sind keine mythologischen Kreaturen!"

Ben Katchor ist der Literat unter den US-amerikanischen Comicautoren. An diesem Mittwoch liest er in Berlin aus seinem Buch "Der Jude von New York". Mit dem Tagesspiegel sprach er bereits vor einiger Zeit über seine Arbeit, aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir das Interview erneut.

Am Mittwoch, dem 21. Januar, liest Ben Katchor um 19 Uhr im taz-Café (Rudi-Dutschke-Straße 23, Berlin-Kreuzberg) aus seinem Buch "Der Jude von New York" (in englischer Sprache). Die Lesung findet im Rahmen der Ausstellung "Comics zur Lage der Welt" statt. Sie ist noch bis zu 31. Januar im Neurotitan, Haus Schwarzenberg, Rosenthaler Str. 39 (Berlin-Mitte), zu sehen. Der Tagesspiegel traf Katchor vor fünf Jahren zum Interview in Berlin, Anlass war damals die deutsche Veröffentlichung des Buches, aus dem er jetzt liest. Hier erfahren Sie, was Katchor über seine Arbeitsweise und seinen Blick auf die jüdische Identität zu erzählen hat - und wieso aus dem einst geplanten Berlin-Comic dann doch nichts wurde.

Tagesspiegel: Herr Katchor, nach der Lektüre Ihres Buches „Der Jude von New York“ hat man den Eindruck, die USA der Gründerjahre zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren ein Tummelplatz für Exzentriker und schräge Charaktere, bei denen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion fließend sind…
Katchor: Ja, und viele meiner Charaktere sind fiktiv, bis auf ein, zwei Ausnahmen. Aber sie sind so angelegt, dass es sie wirklich hätte geben können, wie ich sie beschreibe. Das ist das Faszinierende an jener Zeit für mich, in der so viele Menschen mit so vielen heute absurd erscheinenden Ideen versuchten Ihren Platz in der Neuen Welt zu finden: Alles schien damals möglich. 

Wie kamen Sie darauf, ausgerechnet die Zeit um 1825 zum Rahmen der Handlung von „Der Jude von New York“ zu machen?
Diese Zeit interessiert mich einfach. Ich bin kein Historiker, aber ich habe meine eigene Forschung betrieben. Ich habe viele Bücher über jene Zeit gelesen, aber vor allem Originaldokumente studiert. Ich habe unzählige Zeitungen aus jenen Jahren durchgearbeitet. Dort haben mich besonders die Anzeigen interessiert. Denn damals war die Populärkultur, das Alltagsleben in den Medien nicht so präsent wie heute. Wenn man einen Eindruck vom Alltag der Leute bekommen will, helfen die Anzeigen manchmal besser als die sehr gestelzt klingenden Artikel, um ein realistisches Bild zu erhalten.

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Interdisziplinär. Ben Katchor, Jahrgang 1951, schreibt seit Beginn der achtziger Jahre in Bildern über seine Heimatstadt New York. Außerdem verfasst er Musiktheaterstücke und Libretti. Sein nächstes Buch handelt von der Geschichte der Milchwirtschaft.

© David Heerde

Die jüdische Identität vieler Ihrer Figuren steht im Zentrum der Geschichte…
Ja, und das, obwohl New York damals eigentlich keine starke jüdische Bevölkerung hatte. Es waren vielleicht 1000 Juden oder so, die meisten waren sehr gut assimilierte Amerikaner, die dort seit Generationen lebten. Mordecai Noah, die einzige vollkommen nach realem Vorbild beschriebene Figur meines Buches, und seine Familie lebten dort mindestens seit zwei Generationen.

Jener Mordecai Noah verfolgt den Plan einer jüdischen Siedlung auf einer Insel viele Stunden nördlich von New York. Ein fantastisches Vorhaben…
…aber wahr!

Es fällt schwer, zwischen echten und fiktiven Charakteren zu unterschieden, weil bei Ihnen alle Personen von merkwürdigen Obsessionen oder Visionen befallen zu sein scheinen, ebenso von einem ungeheuren Schaffensdrang und sehr starken wirtschaftlichen Interessen.
Jene Jahre um 1825 markieren den Beginn der modernen Marktwirtschaft, wie wir sie heute kennen – und wie sie gerade mal wieder eine fundamentale Krise erlebt.

Die Wurzeln dafür liegen im frühen 19. Jahrhundert?
Ja, das war in den USA der Moment, als sich die Menschen über das Stadium der reinen Lebenserhaltung hinaus aufmachten, neue Strukturen zu entwickeln. Leute, die bisher in der Landwirtschaft gearbeitet hatten, zogen in die Städte, um dort für andere zu arbeiten. Es war der Anfang des Börsenhandels, der Spekulation… Die Geschichte der Wirtschaft, der menschlichen Handelsbeziehungen interessiert mich seit langem, da ich hier die Grundlagen unseres heutigen Zusammenlebens sehe. Und ich interessiere mich für Theater – was ebenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den USA seine Blütezeit erlebte. Das waren die Jahre, in denen die Leute kaum Printmedien hatten, geschweige denn andere moderne Medien. Theater war das zentrale kulturelle Element im städtischen Leben jener Jahre.

Das greift Ihr Buch nicht nur inhaltlich auf, auch in der Form erinnert es an Theater, zum Teil auch an Papiertheater…
Ja, das ist eine meiner Leidenschaften.

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Alles fließt. Bilder und Worte sind für Ben Katchor eine Einheit, wie in dieser Szene, die man auf seiner Website katchor.com findet.

© Illustration: Ben Katchor

Die Theaterwelt, wie Sie sie beschreiben, steht in bemerkenswerten Kontrast zu den teilweise sehr archaischen Lebensverhältnissen der Menschen jener Jahre. Gerade die Händler und Fallensteller, die Sie in ihrem Buch beschreiben, leben einerseits ein unglaublich karges Leben, andererseits gibt es diesen Hang zur Hochkultur in Form des Theaters.
Ja, so war das damals: Die europäische Hochkultur traf auf die Kultur der Trapper, der Biber-Fallensteller. Stellen Sie sich nur vor: Da waren Geschäftsleute, die heute Manager mit Millionengehältern wären, aber die mussten zugleich lange Zeit in der Wildnis unter einfachsten Umständen verbringen, um ihr Geschäft zu überwachen. Das ergab höchst faszinierende, neue Verbindungen.

Die in Form einer Ihrer Hauptfiguren tragisch enden, weil der mit Biberfellen reich gewordene Händler den Verstand verliert.
Es gibt aus jenen Jahren viele Berichte über Menschen, die schier wahnsinnig wurden, weil sie mit den Veränderungen jener Zeit nicht mitkamen, oder weil sie ihr Leben in die Hände von jemandem gelegt hatten, dessen Geschäftsideen sie dann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Eine soziale Struktur, einen Wohlfahrtsstaat gab es damals außerhalb der Kirchen und der Synagogen nicht in nennenswerter Form, jeder war auf sich allein gestellt.

Ihr Buch lebt davon, dass es eine Spannung aufbaut, bei der man nie genau weiß, was von diesen Schilderungen wahr ist und was nicht.
Fast alles, was ich zeige und erzähle, ist fiktiv, aber es basiert auf der Realität. Ich habe echte Geschichten gesammelt, aber dann meine eigene Erzählung daraus gemacht. Aber was ist schon Wahrheit? Geschichte ist eine Erfindung. Sie wird von jenen geschrieben, die eine Idee haben, was sie erreichen wollen – und die damit Erfolg haben. Die Ideen vieler Leute scheitern und werden als Fiktion gesehen, die Ideen anderer Menschen haben Erfolg und setzen sich als Realität durch. So entsteht Geschichte.

Zum Beispiel?
Man könnte Elektrizität aus Kohlblättern oder Kartoffelschalen gewinnen. Aber das ist nicht sehr praktisch, es hat sich nicht durchgesetzt. Stattdessen haben sich Kohle oder Wasserkraft durchgesetzt. Das ist dann die Realität. Aber es gab und gibt immer eine ganze alternative Welt, die wir als Fiktion ansehen, auch wenn sie mal real war oder hätte sein können. Wenn man sich also wie ich einer früheren Epoche nähert und etwas zu rekonstruieren versucht, was zumindest eine plausible Idee war, dann mag das aus heutiger Sich t absurd wirken. War es damals aber nicht unbedingt. Nehmen wir mein Beispiel in dem Buch, wo ein Mann das Wasser von Lake Eerie mit Kohlensäure versetzt als Mineralwasser verkaufen will. Ich habe vor kurzem gelesen, dass es später im 19. Jahrhundert tatsächlich ernsthafte Pläne gab, New York mit Milch zu versorgen, indem man Pipelines von allen landwirtschaftlichen Regionen drumherum in die Stadt legt. Das war ein echter Plan! Das waren die Internets jener Tage. Nicht alle wurden Realität, aber sind sie deswegen weniger authentische Geschichte?

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Konstruierte Identität. Katchors Werk ist wie ein Theaterstück arrangiert.

© Illustration aus "Der Jude von New York".

Ihr Buch lebt auch von der feinen Balance aus Bildern und darauf abgestimmten Dialogen…
Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie die Menschen jener Zeit wohl gesprochen haben. Das ist sehr schwer zu rekonstruieren, weil Alltagssprache kaum aufgezeichnet wird. Aber meine Annahme ist, dass Sprache damals eine größere Rolle im Leben der Menschen spielte als heute. Ich habe viele Texte aus jener Zeit gelesen und hatte dann den Klang der Zeit in meinem Kopf. Aber wie die Leute privat miteinander sprachen, konnte ich nur erahnen.

Vielleicht erklärt dass, wieso Ihre Charaktere so klingen, als stünden sie auf einer Bühne, auch wenn sie ganz privat miteinander plaudern.
Ich denke, dass das, was wir heute als theatralisch empfinden, damals nur eine höhere Form der Rhetorik war, die viele Menschen auch im alltäglichen Umgang sprachen. Besonders die Personen, die ich beschriebe, unter denen viele Autoren oder Theaterleute sind, oder auch Geschäftsleute, die gewohnt waren, ihre Projekte oder Waren in wohlklingenden Worten anzupreisen.

Ein roter Faden, der fast alle Ihre Charaktere verbindet, ist die Bedeutung der jüdischen Identität – entweder, indem sich Ihre Figuren der eigenen Identität vergewissern wollen, oder indem sie kontinuierlich mit latentem Antisemitismus konfrontiert sind.
Das Kuriose ist, dass Juden für die meisten Menschen der USA jener Zeit – und rund um die Welt – eine Art mythologische Kreatur waren. Wer kannte schon Juden persönlich? Und in New York gab es wie gesagt nicht mal 1000 Juden, die größtenteils vollständig assimiliert waren, kaum jemand kannte persönlich einen Juden. Und dann kam dieser Mordecai Noah, wie gesagt der einzige reale Charakter in meinem Buch, und machte es zu seiner Mission, den Juden eine neue Heimat anzubieten, indem er eine Insel dazu auserkor. Aber das tat er wiederum mit politischem und wirtschaftlichem Kalkül. Die angebliche historische Mission dahinter war ein ziemlich verrücktes Stück Theater. Das ist es, was mich interessiert: Wie diese Leute Identitäten konstruieren, wie sie sich und die dazugehörige Mythologie erfinden, um sie für ihre eigenen Zwecke zu benutzen – entweder gegen die Juden, oder als ihre vermeintlichen Vertreter. Dabei ist es doch so: Es gibt nicht „die Juden“. Niemand weiß, was „ein Jude“ ist. Es ist immer das, was ein jeder Einzelne ist. Wir sind alle Individuen, nicht mythologische Kreaturen! 

Sie sind derzeit in Deutschland zu Besuch, nicht nur um die deutsche Ausgabe von „Der Jude von New York“ vorzustellen, sondern auch um einen Vortrag zum Götzenverbot in der jüdischen Tradition und der Pressedrucktechnik des 20. Jahrhunderts zu halten. Ein auf den ersten Blick ähnlich kurioses Thema wie manche andere Themen in Ihrem Buch.
Ja, aber eines, das höchst interessant ist. Als ich klein war, fiel mir auf, dass in den jüdischen Magazinen jener Jahre die Bilder stets schlechter reproduziert waren als in den englischen Zeitungen oder Magazinen. Das ist kein Zufall. Es passt zu der Dominanz des Wortes über das Bild in der jüdischen Kultur. Es gibt es regelrechte Vernachlässigung des Bildes, das einem Bilderverbot gleichkommt. Bilder wurden von orthodoxen als etwas Gefährliches angesehen, als etwas, das man vergöttern könnte, an Gottes Stelle.

So wie eine Ihrer Hauptfiguren im Buch mitten in der Wildnis Theaterbilder anhimmelt?
Genau. Und um solche Dinge zu verhindern, wurde in jüdischen Publikationen darauf geachtet, Bilder in geringer Qualität wiederzugeben, wenn überhaupt. Die Norm in der Welt ist nun mal Polytheismus: Wir verehren viele Dinge. Aber in monotheistischen Religionen wird das als Bedrohung angesehen. Das ist die Trennung zwischen Körper und Geist in ihrer reinsten Form.

Eine Trennung, die Sie und anderen Comic-Autoren interessanterweise in Ihren Büchern wieder überwinden helfen.
Genau. Comics wollen Bilder und Worte wieder zueinander bringen, was so gar nicht der westlichen Tradition entspricht. So hat schon Lessing beschrieben, wie Bilder für den Raum stehen und Texte für Zeit, und dass man beide nicht verwechseln soll. Das ist die Basis der bedauernswerten akademischen Trennung von Bild und Text, die wir nun im Comic – wie auch im Film - wieder zu überbrücken versuchen.

Empfinden Sie es als Kampf zweier Traditionen, wenn Sie Text und Bild in Ihrer Arbeit in die richtige Balance zu bringen versuchen?
Nein, bei mir scheint das von Anfang an ineinander zu fließen, es passiert ganz natürlich, dass ich Bilder und Worte kombiniere. Es ist für mich ein Kontinuum. Wenn wir hier miteinander sprechen, höre ich Ihre Worte, ich sehe Ihr Gesicht, Ihre Hände, es ist alles eine Einheit. So sehe ich auch meine Arbeit. Das zu trennen, wäre künstlich. Natürlich mache ich auch mal Notizen, bevor ich zu zeichnen anfange, aber bereits dann denke ich in Bildern, für die die Worte nur Platzhalter sind. Dann kommt das Bild, und dann muss manchmal der Text wiederum dem Bild angepasst werden. So geht eins ins andere über.

Welche Bilder kommen Ihnen eigentlich in den Kopf, wenn Sie an Berlin denken? Sie haben immerhin vor ein paar Jahren hier mal ein paar Monate als Fellow der American Academy verbracht, nun sind Sie wieder hier, um Ihr Buch vorzustellen.
Wenn ich an Berlin denke, denke ich daran, wie ruhig und grün und entspannt die Stadt ist.

Wirklich? Dabei sehen wir Berliner uns gerne als Bewohner einer aufregenden, modernen, kosmopolitischen Metropole.
Ich kann in Berlin im Gegensatz zu New York überall die Singvögel hören. Hier scheint das Umland, die Natur viel mehr Teil der Stadt zu sein. Das gefällt mir. Aber aufregend? Nein, eher zurückgelehnt, gelassen.

Sie hatten ja damals bei Ihrem längeren Deutschlandaufenthalt davon gesprochen, eines Tages vielleicht einen Berlin-Comic zu machen…
Ich habe aber dann nur eine Zeichnung gemacht, die war auf dem Cover einer Zeitschrift der American Academy zu sehen. Sie zeigte einen Bratwurstverkäufer und einen Losverkäufer. Mehr habe ich damals dann doch nicht gemacht. Es ist nicht einfach, etwas über eine Stadt zu erzählen, wenn man nur ein paar Monate da war. Dann kann man vielleicht eine Reisereportage schreiben. Aber nicht ein wirklich fundiertes Buch, wie ich es gewollt hätte. Man bleibt doch nur Außenseiter, gerade, wenn man die Sprache nicht wirklich versteht und die Geschichte und die Kultur nicht wirklich erforscht hat. Ich mag einfach nicht über Dinge schreiben, die ich nicht durch und durch verstehe.

Ben Katchor : Der Jude von New York. Ins Deutsche übertragen von Kai Pfeiffer. Avant-Verlag, 100 Seiten, 19,95 Euro.  Mehr von Katchor findet man auf seiner Website.

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