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Intisar bedeutet „Sieg“: Eine Szene aus dem besprochenen Buch.

© Egmont

„Intisars Auto“: Die rasende Rebellin

Zeugnis der Unterdrückung und Manifest der Rebellion: Die Graphic Novel „Intisars Auto“ ist ein nüchterner und doch aufwühlender Bericht aus dem Leben einer jungen Frau im Jemen.

Viel wissen die meisten von uns nicht über den Jemen. Vorherrschend ist ein höchst diffuses Bild, in dem sich Assoziationen mit anderen Staaten der arabischen Halbinsel und angrenzenden Regionen mischen. Beeindruckende Landschafts-Kulissen sind wohl fast das Positivste, das spontan in den Sinn kommt. Abgesehen von Einzelfällen, wie der Vergabe des Friedensnobelpreises an die Jemenitin Tawakkul Karman (die allerdings auch kontrovers diskutiert wurde), handelt es sich ausschließlich um Schreckensmeldungen, wenn das Land in den Nachrichten vorkommt. Die Schlagwort-Liste ist lang und erklärt, warum die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes seit dem 15. Oktober 2014 nicht revidiert wurde: Bürgerkriegs-ähnliche Zustände, jemenitische Familien auf der Flucht vor Huthi-Rebellen, tote Flüchtlinge aus Afrika, Entführungen, Attentate, Terrorismus, Drohnen.

Selten gehörte Stimmen

Der Jemen gehört auch 2014 noch zu den am wenigsten entwickelten Ländern (Platz 160 von 186); mehr als 50 Prozent der Bevölkerung gelten als arm. Menschenrechtsorganisation verweisen auf das schwache Bildungssystem, den verheerenden (zumeist männlichen) Drogenkonsum, die mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit und vor allem auf die eklatante Benachteiligung von Frauen. Der arabische Frühling beendete 2011 zwar erfolgreich die langjährige Diktatur des des Präsidenten Ali Abdallah Saleh; die Hoffnungen auf Demokratisierung und Stabilisierung wurden aber jäh enttäuscht.

Der Comic „Intisars Auto“ behandelt zwar nur einen Bruchteil dieser Probleme, ist aber nicht zuletzt deswegen ein wichtiges Buch. Statt den oben aufgeführten Schreckens-Fundus aus externer Sicht auszuschlachten, zeichnet die Graphic Novel selten gehörte Stimmen auf: Die der jemenitischen Frauen. Die Protagonistin Intisar ist zwar eine fiktive Figur; ihre Erfahrungen basieren aber auf echten Erzählungen. Der Autor Pedro Riera hat zwischen 2009 und 2010 ein Jahr im Jemen verbracht und konnte mit Hilfe (und im Beisein) seiner Frau über 40 Interviews mit Jemenitinnen führen.

Machtverhältnisse, Liebesbeziehungen und Familienbande: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.
Machtverhältnisse, Liebesbeziehungen und Familienbande: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Egmont

Die 24 Episoden des Comics, in denen die Ich-Erzählerin nicht immer lustige Anekdoten über Machtverhältnisse, Liebesbeziehungen und Familienbande zum Besten gibt, orientieren sich an diesem authentischen Material: „Ich brauchte keinerlei Comicvorbild, als ich mich an das Skript setzte, denn mir war sofort klar, dass ich meinen Einblick in die Welt der Frauen genauso direkt und unmissverständlich vermitteln wollte, wie er mir gewährt worden war. Also erteilte ich den Frauen das Wort und ließ sie ihre Geschichte erzählen“, schreibt Pedro Riera in einem informativen Appendix.

Manchmal kann ein Schleier auch helfen

Es gelingt dem Verfasser, die Unterdrückung der Frau im Jemen darzustellen, ohne dabei Klischees zu bedienen: Die Protagonistin Intisar ist weder arm noch ungebildet, ganz im Gegenteil. Sie arbeitet als Anästhesistin in einem Krankenhaus, fährt in ihrer Freizeit gerne rasant Auto und ist auf den ersten Blick eine selbstbestimmte und moderne junge Frau. Das ändert allerdings nichts daran, dass die meisten ihrer Schritte von der männlichen Verwandtschaft überwacht und gegebenenfalls geahndet werden – weder das Single-Dasein noch der Berufsalltag verlaufen unbeschwert. So verliert sie fast ihre Anstellung, als bekannt wird, dass sich eine junge Dame gleichen Vornamens nebenberuflich als Tänzerin verdingt. Tatsächlich gekündigt wird ihr dann wenig später auf Wunsch des Vaters, dem zu Ohren gekommen ist, dass sie mit einer Freundin in einem Café gesehen wurde: Dort werde - so hört man - viel geflirtet.

Intisar bedeutet auf arabisch „Sieg“: Die Protagonistin handelt ihrem Namen entsprechend und kämpft. Dazu gehört auch, dass sie die aufoktroyierten Zwänge so weit es geht zu ihrem Vorteil nutzt. Die Verschleierung kann durchaus praktisch sein, wenn es darum geht, beim Ausüben eines heimlichen Hobbys (nicht nur dem Rennfahren) unerkannt zu bleiben.

Von realen Lebensgeschichten inspiriert: Die Hauptfigur auf dem Buchtitel.
Von realen Lebensgeschichten inspiriert: Die Hauptfigur auf dem Buchtitel.

© Egmont

Im Fokus dieses fiktionalen Berichts steht eindeutig der Text. Die in schwarz-weiß-braunen Tönen gehaltenen Zeichnungen von Nacho Casanova haben die hölzerne Ästhetik von didaktisierten Schulbuch-Comics. Sie sind eher funktional als dekorativ oder inspiriert – oft handelt es sich um schlichte Illustrationen der Off-Erzählung. Vielleicht soll der Strich bewusst an Sachcomics erinnern und damit Authentizität suggerieren. Bleibt zu hoffen, dass nicht zu viele potentielle Adressaten abgeschreckt werden: So reduziert und nüchtern der Stil nämlich sein mag, so differenziert und aufwühlend ist das resultierende Portrait. Die im Comic aufgezeichneten Stimmen sind es wert gehört zu werden; das macht Intisars Auto lesenswert.

Pedro Riera, Nacho Casanova: Intisars Auto - aus dem Leben einer jungen Frau im Jemen, Egmont Graphic Novel, 224 Seiten, 19,99 Euro. Leseprobe auf der Website des Verlages.

Marie Schröer

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