zum Hauptinhalt
Zwischen Laszivität und Schwermut: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Schreiber & Leser

Jerome Charyn im Comic: Liebe und Rache in der Lower East Side

„Er ist zu allem bereit“, sagt der von der Kritik gefeierte Autor Jerome Charyn über seinen fiktiven New Yorker Cop Isaac Sidel. Das ist Zeichner Frederic Rebena ebenfalls: Dessen ansehnlich-expressive Umsetzung von „Marilyn The Wild“ bietet eine gelungene Symbiose von Wort und Bild.  

Jerome Charyn ist ein renommierter Schriftsteller, dessen avantgardistische Krimi-Reihe über den Polizeichef Isaac Sidel bereits elf Bände umfasst. Weiterhin ist er Autor von Biografien und Sachbüchern. Von klein auf außerdem Leser von Comics, wurde Charyn später selbst als deren Verfasser tätig - in Zusammenarbeit mit namhaften Künstlern wie Jacques de Loustal, François Bouq oder José Antonio Muñoz. Die Ergebnisse fielen durchaus unterschiedlich aus.

Vergleicht man beispielsweise „Die Brüder Adamov“ (1991) mit „White Sonya“ (2000), die beide mit Loustal als Co-Autor beziehungsweise Zeichner entstanden, bemerkt man, dass das Zusammenwirken von Wort und Bild im jüngeren der beiden Werke eine weit weniger suggestive Sogwirkung entfaltet. Das bedeutet: Die der Kunstform eigenen Komponenten finden in „White Sonya“ kaum zueinander, sondern stehen in seltsam anmutender Sterilität für sich. Das kann ein sicherlich nicht unzulässiges und faszinierendes künstlerisches Mittel sein, hier aber wirkt es eher mangelnder Interaktion als avantgardistischer Experimentierfreude geschuldet.

Die Adaption basiert auf dem zweiten Sidel-Roman

Auffällig sind die Unterschiede in der Vorgehensweise: Während der Text in „White Sonya“, einer Fallstudie über eine Frau im Kriminellenmilieu, ausschließlich in Sprechblasen und somit in gesprochener Form vorkommt, wird „Die Brüder Adamov“ zusätzlich von einem begleitenden Text flankiert. Damit liegt das Gangsterepos über zwei ungleiche Brüder aus der Lower East Side etwa in der Mitte von gängigen Einsatzmethoden des geschriebenen Wortes im Comic. Neben textloser Erzählung und der Verwendung von Denkblasen gibt es noch die Variante eines rein begleitenden Textes, wie ihn Philippe Paringaux für Loustals „Besame Mucho“ (1981/D:1989), verfasste. Die darin zu betrachtende Plastizität von Loustals Zeichnungen ist in „Die Brüder Adamov“ nur noch abgeschwächt sichtbar und nivelliert sich bis zu „White Sonya“ weiter nach unten.

Die kürzlich auf Deutsch veröffentlichte Graphic Novel „Marilyn The Wild“ ist, anders als „Die Brüder Adamov“ und „White Sonya“, eine Adaption eines bereits existierenden Werkes von Charyn und basiert auf dem zweiten seiner Romane um Isaac Sidel. Der Autor arbeitet hier erstmals mit dem im Verhältnis zu seinen bisherigen künstlerischen Partnern relativ unbekannten Newcomer Frederic Rebena zusammen.

Die Geschichte handelt von Isaac Sidels in geradezu manischer Weise geliebter Tochter Marilyn, einer mehrfach unglücklich verheirateten Frau, die es dennoch immer wieder zu den Männern hinzieht. Der Fall, welcher sich daraus entspinnt, wird ausgelöst durch Rachegelüste verschiedener Kontrahenten gegenüber dem ihnen allzu mächtigen Deputy Chief. Dessen restliche familiäre Verhältnisse sind ebenfalls instandsetzungsbedürftig und werden noch dadurch verkompliziert, dass seine Tochter Marylin ausgerechnet bei der rechten Hand von Sidel, Manfred „Blue Eyes“ Coen, die Liebe sucht.

Bettszenen voll erotischer Anmut

Diese Handlungsstränge, stets mit den Aktionen der durchweg sozial dysfunktionalen Charaktere verwoben, bilden das Fundament beider Versionen, dem nach und nach immer weitere Risse hinzufügt werden. Dies geschieht in Charyns Roman durch Sätze, die zwischen teilweise in die Surrealität  abgleitenden Milieuschilderungen und präzisen soziotopischen Analysen hin- und her springen und zusätzlich mit plötzlichen Einschüben aus der Vergangenheit der Protagonisten durchsetzt sind.

Ein derartig idiosynkratischer Schreibstil stellt eine große Herausforderung dar, will man ihn in eine andere Kunstform transferieren – besonders als ursprünglicher Verfasser der Vorlage. Und für den für die grafische Erzählebene zuständigen Künstler erst recht, muss er doch Eigenes gegenüber dem Schöpfer des Ausgangstextes durchsetzen können, um nicht zu einer reinen Illustrationsmaschine zu verkommen.

Charyn wird als Autor des Szenarios genannt. Darin wurden die für die Adaption notwendigen Handlungsschauplätze, Personen und Ereignisse festgelegt, um dem Geist der Urfassung gerecht zu bleiben. Die Autoren haben einige notwendige Kürzungen vorgenommen, die dem Gehalt des Werkes aber nicht schaden. Auf die ungestümen Satzgebilde der Vorlage hat man verzichtet, wie schon in „White Sonya“ bevorzugt Charyn den Dialog zwischen den Personen. Doch hier bewirkt diese Vorgehensweise keine Separation des gesprochenen Wortes von den Agierenden oder eine Dissonanz innerhalb der Komposition, sondern ist vollwertig integrierter Teil derselben, also Lautmalerei im Wortsinn.

Dysfunktionale Charaktere: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.
Dysfunktionale Charaktere: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Schreiber & Leser

Bei den Bettszenen zwischen Marilyn und Coen verleiht Rebena der Tochter Sidels mit wenigen Strichen und viel Fläche erotische Anmut und stellt sie in den Mittelpunkt seiner Panels. Deren Anzahl umfasst meist acht oder neun innerhalb seiner konservativ zu nennenden Seiteneinteilung, vorwiegend ergänzt um eine Frontalperspektive beim Blick auf die Figuren. Rebena übernimmt hier den Portraitcharakter der Romanvorlage. Derweil unterfüttern Blautöne in verschiedenen Changierungen bis hin zum Grau die zwischen Laszivität und Schwermut schwebende Stimmung in Coens Schlafzimmer. Zugleich sorgt Rebena durch diese Gestaltungsweisen für eine Beruhigung des Erzähltempos innerhalb der sich überschlagenden Ereignisse.

Liebe zum Detail

Die betörende Ruhe in der Darstellung der Titelfigur wird von ihm mit einem nervös-unfertigen Strich gebrochen, der den Duktus des Romans nicht bloß in Bilder übersetzt sondern erweitert. Auch die Koloration, vermutlich von Rebena selbst vorgenommen – Angaben finden sich im Buch dazu genauso wenig wie zum Lettering – sorgen für eine latent aggressive Farbkodierung in Rot-Orange-Tönen, um so der hektischen Atmosphäre auf den Straßen und in zwielichtigen Etablissements zu entsprechen. Zuweilen wird dies alles garniert mit einem grellen Gelb oder erschöpftem Ocker – man weiß nicht: ist es Hepatitis als Folge von Prostitution oder gefahrgeneigtem Drogengebrauch oder der allgegenwärtige Neid zwischen den Banden? Das Lettering passt sich der ständig angespannten Atmosphäre an, indem die Wortenden sich oft zusammenpressen müssen, um nicht zwischen den Kiefern der sie hektisch ausstoßenden Sprecher zermalmt zu werden. Hingebungsvoll sind auch Graffiti oder Beschriftungen ausgeführt, die, wie auch das wohlplatzierte Strandgut des Alltags aus weggeworfenen Konsumartikeln im Hintergrund, auf die Liebe zum Detail der beiden Autoren hindeuten.

Kann von den Männern nicht lassen: Die titelgebende weibliche Hauptfigur auf dem Buchcover.
Kann von den Männern nicht lassen: Die titelgebende weibliche Hauptfigur auf dem Buchcover.

© Schreiber & Leser

Eingerahmt wird das alles von einer Splash Page zu Beginn und Ende des Comics. Beide Seiten zeigen eine in fahrigem Strich hingeworfene Außenansicht des Hauses, in dem sich Marilyn und Coen aufhalten. Das Wetter weist auf den Zeitraum zwischen den Ereignissen hin, während die Koloration, zu Beginn mit Orange unterstützt und am Ende von Grau dominiert, auf die Verlaufskurve in der Affäre Bezug zu nehmen scheint . Wohl endet diese in Buch und Comic vorerst glücklich, doch eigentlich ist Coen ja schon tot. Er stirbt nämlich bereits im ersten Buch der Sidel-Reihe; somit ist „Marilyn The Wild“ quasi eine Art Prequel.       

Dieser Comic findet also einen ganz eigenen Ausdruck für die skurrilen Figuren und deren chaotisches Leben inmitten der Lower East Side und den in Charyns Roman angewandten Schreibstil. Nach dem eher enttäuschenden Ergebnis von „White Sonya“ war das nicht unbedingt zu erwarten. Charyn liefert hier als Szenarist ein überzeugenderes Ergebnis als in seiner Kollaboration mit Loustal, obwohl er sein Konzept, Text nur innerhalb von Dialogen einzusetzen, weiter aufrechterhält. Frederic Rebena hat zu einer für sich stehenden stilistischen Umsetzung gefunden und beide Künstler haben es bewerkstelligt, statt einer sich sklavisch an der Vorlage abarbeitenden Literaturadaption ein eigenständiges Werk zu gestalten. Es verleugnet seine Quelle nicht, aber führt die Vorlage mittels intelligenten Einsatzes gestalterischen Könnens zu neuen Ufern.                

Frederic Rebena / Jerome Charyn: Marilyn the Wild, Schreiber & Leser, 80 Seiten, 18,80 Euro

Zur Startseite