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© Illustration: Simmonds

Literaturtipps: Die Freuden des Sommers

Das Online-Kulturmagazin satt.org hat Zeichner und Comic-Experten gefragt, was sie in diesem Sommer lesen wollen - darunter auch einige Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten. Hier eine Auswahl der Antworten

Martin Jurgeit, Chefredakteur der Fachzeitschrift Comixene:

Tim und Struppi Farbfaksimile-Ausgaben von Hergé (Carlsen)

Diese Bände liegen derzeit ganz oben auf meinem Lesestapel. Es handelt sich hierbei um liebevoll editierte Ausgaben früherer Versionen von Hergés Comic-Klassikern. Da ich mir wohl nie die "originalen" Casterman-Alben mit den ersten deutschen Übersetzungen leisten kann, bin ich auf diese Alben wirklich sehr gespannt.

Ein guter Ort zum Sterben von Arkadi Babtschenko (rowohlt Berlin)
Nach seinem ergreifenden Roman-Debüt "Die Farbe des Krieges" schildert Babtschenko wieder Episoden aus dem Tschetschenien-Krieg, den er aus eigener leidvoller Anschauung aus seinen Einsätzen auf Seiten der russischen Okkupationstruppen kennt.

Hadschi Murat (Manesse), Die Kosaken (Diogenes), Herr und Knecht (Diogenes) – alle von Lew Tolstoi
Passend zu Babtschenko will ich dann noch die diversen Kaukasus-Erzählungen von Lew Tolstoi (wieder-)lesen, die mich vor vielen Jahren schon als verstümmeltes Jugendbuch

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Liebevoll editiert. Eine Szene aus "Die Zigarren des Pharaos" in der neu aufgelegten Farbfaksimile-Ausgabe.

© Illustration: Hergé/Carlsen

(Prisma Jugendbibliothek) in ihren Bann gezogen haben. Große Dichtung und gleichzeitig auch schlimme Gräuelpropaganda, die noch heute das Bild der Russen von den Kaukasusvölkern vergiftet.

Gipfel der Götter 1 bis 5 von Jiro Taniguchi & Baku Yumemakura (Schreiber & Leser/shodoku)
Wenn dann noch Zeit bleibt, gönne ich mir dieses Manga-Epos von gut 1500 Seiten in Gänze. Endlich werde ich dann erfahren, wie dieses alpinistische Abenteuer ausgeht. (Übrigens mein erste Leseerfahrung mit einem Bergsteiger-Comic überhaupt!)


Sven Jachmann, freier Kulturjournalist:

Francois Bourgeon – Reisende im Wind: Das Mädchen vom Bois-Caiman (Splitter Verlag)
Mit seinem Historien-Abenteuer-Epos hat Bourgeon ohne wenn und aber das Erzählen mittels Comics in neue Sphären befördert und dabei noch eine epochale Kolonialgeschichte entwickelt. Wenn er dieser also quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit, still und heimlich in seinem Kämmerlein einen gut 200 Seiten umfassenden Zyklus hinzufügt und selbigen einige Jahrzehnte später ansetzt, dann muss man doch einfach wissen wollen, ob er damit das Richtige getan hat ...

Ulli Lust – Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (Avant Verlag)

Fast alles, was es bislang an erzählter deutschsprachiger autobiographischer Punkaufarbeitung so zahlreich zu lesen gab, war mit männlicher Hand geschrieben. Es gab Tragik, Depressionen, Selbstzerstörung, natürlich stets die nötige Selbstironie, aber in der Summe der geschilderten unerfüllten Bedürfnisse auch immer die Erkenntnis, dass Punk nicht im gesellschaftlichen Vakuum lebte – offensichtlich erst recht nicht, wenn die Pubertät schlagartig die Samenproduktion reguliert und vieles wünschen lässt, was sich viele wünschen. Da ist es nicht nur großartig, dass in diesem Diskurs endlich eine weibliche Perspektive einkehrt, es ist ganz exzellent, dass dies in Form eines 450-seitigen Comicmonstrums geschieht.

Joe Sacco – Palästina (Edition Moderne)
Die Comicreportage besitzt als individualistische Bildmaschine fraglos einen ästhetischen Reiz. Ob sie aber diesem politischen Konflikt aufklärerisch Facetten abtrotzen kann, ohne schizophren-historisch die Shoah nach Gusto mal ein-, mal auszublenden, ob sie also in der Lage ist, Widersprüche zu ertragen und zu bebildern, ohne völkische Blut und Boden-Pädagogik zu predigen, ob sie also die Komplexität räumlich ästhetisiert oder nur schlichte und schlechte Appelle ein weiteres Mal ikonisiert, darauf bin ich ( da mir die Erstveröffentlichung bei Zweitausendeins entgangen ist, mir das dortige Umfeld widerwärtigster 9/11-Verschwörungstheorie-Literatur aber andererseits in Bezug auf „Palästina“ Sorge bereitet) im doppelten Sinne gespannt.

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Abgründige Soap. Das Cover des demnächst erscheinenden neunten Bandes von "The Walking Dead".

© Cross Cult

Robert Kirkman/ Charlie Adlard – The Walking Dead #9

(Cross Cult)

Zum einen ist die Reihe nicht nur eine wunderbar abgründige Soap, die es schafft, ein Gespür für die Brüchigkeit wie Notwendigkeit von Lebensentwürfen, Paarbildungsstrategien und humanistischer Selbstbestimmung inmitten der Postapokalypse zu vermitteln: Wie lässt es sich in einer zombiefizierten Welt überhaupt gut leben, wenn man es nun mal muss? Das hat ihre Konzeption als Endlosserie allen anderen Zombierzählungen voraus, die vornehmlich mit dem Schock des Einbruchs hantieren, die Zeit danach jedoch notgedrungen ausblenden müssen oder nur ein Schlaglicht auf sie werfen können. Außerdem ist jeder neue Sammelband Anlass genug, die vorherigen ebenfalls zu lesen – und das kann dauern und sollte alleine, bei kargem Licht und am besten auf dem Land passieren.

Francois Schuiten/ Benoît Peeters – Geheimnisvolle Städte: Der Archivar (Egmont Ehapa)
Weil mein Ebay-1-Euro-Schnäppchen bereits seit zwei Monaten auf dem postalischen Weg zu mir ist und der frisch eingezogene Optimist in mir sagt, dass es sich nur noch um eine Frage der Zeit handeln dürfte, sind doch schließlich nicht nur Städte geheimnisvoll: Das Vertrauen in den Postboten unterscheidet offensichtlich den Mensch vom Hund.


Lars von Törne, Tagesspiegel-Redakteur:

Jeff Lemire: „The Country Nurse“ (Top Shelf)
Weil die ersten beiden Bände von Jeff Lemires Essex-County-Trilogie zu den bewegendsten, traurig-schönsten Comic-Erzählungen gehören, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe – und weil nur wenige Zeichner einen so rauen, kantigen Strich mit so viel Sensibilität für die menschlichen Schwächen, Sorgen und Hoffnungen ihrer Hauptfiguren verbinden wie dieser kanadische Hoffnungsträger, dessen Werk hoffentlich auch bald auf Deutsch erscheint. (Bei der Edition 52 ist die Gesamtausgabe der Essex-County-Trilogie für den Herbst 2009 angekündigt.)

Emmanuel Guibert: „Alan’s War“ (First Second)

Weil Guibert mit diesem Buch sowie mit dem etwa zeitgleich entstandenen „Der Fotograf“ vorgeführt hat, welches bislang nur ansatzweise genutzte Potenzial im Comic noch steckt, wenn man das Medium nur ernst genug nimmt

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Meisterwerk. Emmanuel Guiberts »Alan's War« schildert die Kriegs- und Lebenserinnerungen eines amerikanischen Soldaten, der im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland kommt.

© Illustration: Guibert

– und wenn ein begnadeter Künstler sich einer faszinierenden Biographie widmet und sein Können in den Dienst der Erzählung stellt. Dieses Buch habe ich zwar bereits zwei Mal gelesen – aber wie „Der Fotograf“ werde ich es noch lange immer wieder zur Hand nehmen und mich an der Fähigkeit zur erzählerischen Verdichtung sowie an der handwerklichen Meisterschaft Guiberts erfreuen.

Seth: „George Sprott (1894-1975)“ (Drawn & Quarterly)
Weil Seth einen ebenso untrüglichen Sinn für Stil wie für kuriose Charaktere hat.

Pierre Dragon/Frederik Peeters: RG – Verdeckter Einsatz in Paris (Carlsen)
Weil Peeters’ „Blaue Pillen“ eine der anrührendsten, persönlichsten und kunstvollsten Liebes- und Krankheitsgeschichten ist, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe - und weil ich hoffe, etwas von der in seinen Bildern ausgedrückten Mischung aus Einfühlungsvermögen, Witz und Trotz auch in diesem Buch wiederzufinden. Auch wenn es diesmal nicht um Aids geht, sondern um Polizeiabenteuer.

Posy Simmonds: „Tamara Drewe“ (Jonathan Cape)
Weil ich das Vorgängerwerk von Posy Simmonds – „Gemma Bovery“ – für eine der scharfsinnigsten, witzigsten, intelligentesten und außerhalb Großbritanniens zu Unrecht am meisten unterschätzten Auseinandersetzungen mit den Träumen, Enttäuschungen und Lebenslügen bildungsbürgerlicher Mittelschichtler halte. Wenn der im vergangenen Jahr erschienene Nachfolger „Tamara Drewe“ nur ungefähr das Niveau halten kann (und ein erstes Durchblättern lässt darauf schließen), dürfte es ebenfalls ein Meisterwerk sein, das auch von deutschen Verlagen schnellstens zu entdeckt werden lohnt. („Tamara Drewe“ ist bei Reprodukt für Oktober 2009 angekündigt.)

Michel Rabagliati: „Paul à Québec“ (Pastéque)
Weil Rabagliatis „Paul“-Serie mich dazu bewegt hat, mein Schulfranzösisch nach langer Abstinenz wieder zu beleben, um ja kein Kapitel dieser in seiner betont undramatischen Alltäglichkeit schon wieder spektakulären Halb-Autobiographie zu verpassen. (Tipp für Einsteiger ohne Schulfranzösisch: Den ersten Band „Pauls Ferienjob“ gibt es auf Deutsch bei Edition 52!)

Flix: „Da war mal was“ (Carlsen, erscheint im August)
Weil ich mich alle vier Wochen, wenn Flix’ neuer Strip bei uns im Tagesspiegel erscheint, darüber freue, wie viele persönliche, frische und Leser jeden Alters ansprechende Geschichten sich rund um das vermeintlich ausgelutschte Thema deutsche Teilung auch 20 Jahre nach dem Mauerfall noch erzählen lassen. Ich habe in den drei Jahren zwar fast alle Strips gelesen, sobald sie bei uns in der Zeitung standen – auf den jetzt erscheinenden Sammelband freue ich mich trotzdem sehr, denn bei Flix entdeckt man erfahrungsgemäß beim erneuten Lesen seiner Geschichten viele Details und Zwischentöne, die einem beim ersten Mal gar nicht aufgefallen waren, weil die Story so glatt runterging.

Hideo Okazaki und Kazuo Kamimura: „Shinanogawa“ (Carlsen Manga)
Weil „Lady Snowblood“, gezeichnet von Kamimura, zu den schönsten – und erotischsten - Blut- und Rachedramen gehört, das ich seit dem in dieser Hinsicht unübertroffenen „Old Boy“ gelesen habe und ich mir wegen dieser beiden Meisterwerke geschworen habe, meine durch zu viel mittelmäßige Teenager-Ware provozierte latente Manga-Unlust zumindest bei Werken dieses Kalibers zu überwinden.

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