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Manga: Die Hippiemuse des fragmentierten Künstlers  

In Osamu Tezukas „Barbara“ schwankt ein Schriftsteller zwischen einer sagenhaften Muse und seinen eigenen Wahnideen. Das geniale Künstlerportrait erzählt von der Inspiration unter den Bedingungen des Lebens in der Metropole.

Das Leben in einem Großstadt-Moloch wie Tokio verschlingt die Menschen darin. Barbara ist eine von denjenigen, die von ihm verdaut und wieder ausgeschieden worden zu sein scheinen, ein versoffenes Hippiemädchen, das niedergekauert auf der Straße vegetiert. Der Schriftsteller Yosuke Mikura nimmt sich ihrer an, weil sie erst offenbar Hilfe benötigt und ihn dann aber beeindruckt, indem sie aus dem Stehgreif Gedichte Verlaines zitiert. Sie nistet sich bei ihm ein, womit ein für ihn unerklärliches Abhängigkeitsverhältnis beginnt. Ihr Schmarotzertum geht ihm auf die Nerven, aber sein Künstlertum scheint sich mehr und mehr an ihr Dasein zu heften.

Der Manga „Barbara“ ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein Konglomerat aus der japanischen und der europäischen Kulturgeschichte. Es beginnt damit, dass Osamu Tezuka sich von Jaques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ inspirieren ließ. Deren Handlung basiert auf mehreren Erzählungen des spätromantischen Dichters E.T.A. Hoffmann, durch die wiederum einige Motive aus der deutschen Frühromantik in „Barbara“ hineinspielen. Wie die romantischen Helden steht auch Tezukas Schriftsteller stets auf der Schwelle zwischen einem gesicherten Verhältnis zu sich selbst und dem drohenden Zerfall in verschiedene Persönlichkeiten, die einander bekämpfen. Das Motiv des Lebensbuchs, in dem der Dichter seine Lebensstationen vorgezeichnet findet, steht auch in Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“ in dem Zusammenhang, zu einer Identität zu gelangen, die der Dichter ebenso souverän gestaltet wie sein poetisches Werk.

Schaufensterpuppen und Rassehunde

In dem fragilen Zustand, in dem sich Mikura ohnehin befindet, weiß er nie, welchen Weg er einschlagen soll: Er wird zwischen den Anforderungen aufgerieben, die sein Verleger, die Medien und die Öffentlichkeit an ihn stellen. Ihm fehlt ein Ziel, das ihn in die Welt hinaus und von sich selber weg treibt. Er lamentiert darüber, dass dem modernen Künstler nur die Dekadenz bliebe. Ein Symptom dieser Dekadenz mag seine „abartige sexuelle Triebstruktur“ sein, die ihn zu dazu bringt, Schaufensterpuppen und Rassehunden nachzustellen. Wenn er nur für seine Kunst lebt, droht er durchzudrehen, wenn er sich mit der Wirklichkeit einlässt, geht ihm die Kunst verloren und ihm erscheint alles sinnlos.

In seinem Nachwort schreibt Osamu Tezuka: „Barbara erzählt die Geschichte eines Mannes, der zwischen einem dekadenten Ästhetizismus und Geistesgestörtheit hin und her taumelt. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Erlebnisse nicht bloße Wahnvorstellungen sind.“ Dieses Schwanken legt Tezuka in seine Linienführung hinein: Das Trottoir, auf dem Mikura geht, faltet sich ineinander oder wölbt sich in alle Richtungen, sein Gesicht verzerrt sich wie in einem Spiegelkabinett oder die Stadt droht über ihm einzustürzen.

Heimatlos zwischen den Zeiten

In Analogie zur Ungewissheit, ob Barbara nicht bloß eine Projektion ist, bleibt ebenso verborgen, ob nicht Mikura selbst der Auswurf des modernen Lebens ist, als der Barbara sich zeigt. Sie offenbart sich zwar als eine der Musen aus der griechischen Mythologie, deren Mutter Mnemosyne Originale der größten Kunstschätze im Wohnzimmer aufbewahrt. Das könnte allerdings auch eine Manifestation seiner Sehnsucht nach dem Ursprung der Kunst sein. Als sie sich zum ersten Mal begegnen, urteilt sie über seine Bücher, dass sie zu schön wären, um wahr zu sein. Andererseits reagiert sie immer ängstlich, besorgt oder verärgert, wenn ein Künstler sich allzu sehr der Wirklichkeit hingibt oder sich für sie verbiegt.

Mikura verkörpert die Heimatlosigkeit des modernen Künstlers, der sich weder in der Tradition verkriechen noch sich in der Gegenwart einrichten kann. Die frauenfendlichen Züge, über die sich die political correctness im Falle Barbara ereifert, sind demzufolge gar keine. Für Mikura nimmt seine Kunst eine weibliche Gestalt an, mit der ihn eine amour fou verbindet: Die doppelsinnige Auflösung im zweiten Band zeigt schließlich, dass er weder mit ihr noch ohne sie leben kann, sondern nur, indem er sich in diesem Verhältnis eben auflöst. Bezeichnenderweise führt ihn sein Ende aus der Stadtkloake heraus und er zieht als leere Hülle durch die japanische Landschaft.

Zwischen Wahn und Wirklichkeit: Covermotiv des ersten Bandes.
Zwischen Wahn und Wirklichkeit: Covermotiv des ersten Bandes.

© Schreiber & Leser

Osamu Tezuka vereinigt nicht nur ein Übermaß an Motiven und kulturellen Referenzen durch eine sehr klare Vorstellung von seinem Thema, er bringt auch so unterschiedliche Stile wie Illustration, Karikatur oder Pin Up-Ästhetik zusammen. Der Anhang vermittelt den Lesern außerdem eine Ahnung davon, wie virtuos er mit seinen Worten spielt, so dass auch sie stets mehrere Bezüge liefern, ohne dass er einer Bedeutung den Vorzug geben würde. „Barbara“ ist neben Joann Sfars „Pascin“ das großartigste Künstlerportrait im Comic.

Osamu Tezuka: Barbara, Schreiber und Leser, zwei Bände à 208/240 Seiten, je 14,95 Euro. Leseproben unter diesem Link.

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