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Werk und Schöpfer: Dylan Horrocks und der Titel der deutschen Ausgabe von "Hicksville".

© Reprodukt

Interview: „Der Rest der Welt ist aufgewacht“

Dylan Horrocks’ „Hicksville“ ist eine der herausragenden Graphic Novels der vergangenen Jahre – jetzt liegt die vielschichtige Erzählung auch auf Deutsch vor. Ein Interview mit dem neuseeländischen Autor über Comic-Utopien, den Zynismus der Superheldenwelt und die Magie des Niesens.

Dylan Horrocks, in Ihrer nach 15 Jahren jetzt auch auf Deutsch erscheinenden Graphic Novel „Hicksville“ beschreiben Sie einen geheimnisvollen Ort am Ende der Welt, in dem Comics als ernstzunehmendes Kulturmedium uneingeschränkt geschätzt und verehrt werden - aus damaliger Sicht eine schwärmerische Utopie. Wie weit ist aus der Fantasie von damals angesichts der in den vergangenen Jahren gewachsenen Anerkennung für Graphic Novels und anspruchsvolle Comics Realität geworden?

Wir sind dieser Utopie näher als je zuvor. Wenn ich heute in Läden für anspruchsvolle Comics wie vor ein paar Tagen im „Strips & Stories“ in Hamburg lese, dann fühle ich mich wie in Hicksville. Als wäre mein Traum Wirklichkeit geworden. In den vergangenen 20 Jahren hat es im Bereich Comics unglaubliche Veränderungen gegeben. Es gab wohl nie eine bessere Zeit als heute, um Comiczeichner zu sein. Es gibt so viel mehr Möglichkeiten als früher, die Anerkennung für Bücher wie „Persepolis“ von Marjane Satrapi oder die Arbeiten von Joe Sacco ist enorm gewachsen, und jemand wie Chris Ware kann die außergewöhnlichsten Bücher schaffen, die auch noch Bestseller werden – das ist schon fast bizarr. Als ich „Hicksville“ begann, gab es all dieses schon auf die eine oder andere Weise – aber außerhalb der Comicszene nahm niemand Notiz davon. Jetzt ist der Rest der Welt aufgewacht.

„Hicksville“ erzählt ja nicht nur von der außerhalb der Fankreise lange unterschätzten Bedeutung von Comics, es wirft ja auch einen kritischen Blick auf die Comicgeschichte.

Ja, es geht auch darum, dass die Comicgeschichte nicht nur reich an großartigen Werken und Ideen ist, die lange am Rande der kulturellen Wahrnehmung standen oder gar nicht erst das Licht der Welt erblickten. Sondern diese Geschichte kann auch eine Zwangsjacke für folgende Generationen sein. Das Erbe früherer Comic-Jahrzehnte kann auch sehr einschränkend sein für die Entwicklung neuer Geschichten. Es kann die Vorstellungskraft einschränken, wohin sich die Kunstform entwickeln kann. Auch darum ging es mir in „Hicksville“: Diese Geschichte zu erforschen und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen. Wenn Du es verstehst, die Vergangenheit nicht als Landkarte benutzen, sondern als weite, offene Landschaft voller Möglichkeiten und Entdeckungen, dann kannst Du deine ganz eigenen, neuen Wege gehen.

Ich nehme an, Sie spielen auf die Dominanz unter anderem der Superheldencomics an, die Sie in „Hicksville“ kritisch unter die Lupe nehmen, wenngleich Sie später auch selbst mal ein Gastspiel als Autor von „Batwoman“ und anderen Mainstream-Serien absolviert haben…

Ja. Die Geschichte des Comics wurde zu lange als Geschichte von Genres wahrgenommen, und nicht als Geschichte eines Mediums. Mit meinem Buch will ich sagen: Es geht hier nicht um einzelne Genres, sondern um Fantasien, um Geschichten und Ideen, die nicht alle immer umgesetzt wurden und deren Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft wurde.

Dass nicht alle Comics, die in den Köpfen von Autoren und Zeichnern existieren, wirklich auch in gedruckter Form auf Papier endeten, liegt ja nicht nur an der eingeschränkten Wertschätzung der Vielfalt des Mediums der Vergangenheit, sondern auch daran, dass eine gute Graphic Novel vor allem wegen des enormen zeichnerischen Aufwandes nun mal verdammt lang benötigt, bis sie fertig ist…

Das stimmt. Ich habe zum Beispiel derzeit gleichzeitig sechs Graphic Novels im Kopf und arbeite offiziell an ihnen, aber komme mit dem Zeichnen nur sehr langsam voran. Seit zehn Jahren arbeite ich an diesen sechs Büchern gleichzeitig, und nächstes Jahr wird nun hoffentlich die erste fertig sein, „The Magic Pen“, der erste Teil einer Trilogie, die eine Art Fortsetzung von „Hicksville“ ist. Ich war oft an dem Punkt, dass ich dachte: Ich werde nie eine einzige fertig stellen. Aber jetzt habe ich ein Stipendium der neuseeländischen Regierung bekommen und kann mich sechs Monate nur um dieses Projekt kümmern – das müsste reichen, um es fertigzustellen. Dazu kommt, dass ich künftig mehr auf Teamwork setze, denn ich schreibe viel schneller als ich zeichne. Ich will deswegen mehr mit Zeichnern zusammenzuarbeiten, damit diese Geschichten nicht ewig in mir bleiben, sondern einen Weg nach draußen finden.

Die deutsche Ausgabe von „Hicksville“ basiert auf einer Neuausgabe in Englisch, die Sie mit einem neuen Vorwort versehen haben. Darin machen Sie deutlich, dass Ihr Buch, das für viele Leser zu einer der größten Graphic Novels der Geschichte zählt, bei Ihnen selbst aus heutiger Sicht eher gemischte Gefühle auslöst. Wieso?

Mein Buch beginnt mit einem Zitat von Jack Kirby: „Comics werden Dein Herz brechen.“ Und so war es bei mir. Nach der ersten Veröffentlichung von „Hicksville“ habe ich ja eine zeitlang Superheldencomics für den DC-Verlag in den USA geschrieben, Batwoman und auch ein paar Batman-Episoden, dazu „Hunter“ für Vertigo. Ich fand es sehr schwierig, in der Superhelden-Branche zu arbeiten, weil mir das gar nicht entsprach. Ich schrieb Geschichten, an die ich nicht glaubte und die nicht von mir kamen. Die Superhelden-Geschichten sind Fantasien, es geht um Macht, Gewalt, Flucht aus der Realität, vereinfachte Moral – das sind nicht meine Fantasien. Aber es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich in der Fantasiewelt eines anderen lebte. Und das war ein Traum, den ich abstoßend fand. Die Comicindustrie beutet diese Art von Fantasien auf verantwortungslose Weise aus, um damit Profit zu machen. Und da ich als Autor dazu neige, in die Welt einzutauchen, über die ich schreibe, bin ich auch in diese Welt eingetaucht. Und ich kann Ihnen sagen: Gotham City ist ein schrecklicher, sehr dunkler Platz, um dort zu leben!

Klingt so, als habe Ihr Ausflug in den Superhelden-Mainstream mit einer Depression geendet…

Ja, ich war am Schluss echt niedergeschlagen. Das wirkte sich auf meine gesamte Arbeit aus. Ich konnte lange nicht mehr schreiben und fand es schwer, Romane und Comics zu lesen oder Filme zu sehen. Ich hatte mein Vertrauen in das Geschichtenerzählen verloren. Picasso hat mal gesagt: Kunst ist eine Lüge, die die Wahrheit enthüllt. Mit diesen Superheldengeschichten ist es aber eher so, dass sie eine Lüge sind, die Leuten nur Lügen präsentiert. Ich fand, dass an diesen Geschichten nichts Wahres oder Realistisches war. Diese Geschichten präsentieren in der Regel eine Vision von der Welt, die auf eine sehr tiefgehende Weise unehrlich ist. Und ich nahm daran teil – das war schwierig. Auch wenn ich finde, dass manche Superhelden-Comics großartig sind. Manche Autoren – wie Alan Moore und zu einem geringeren Anteil Grant Morrison – begeben sich in diese Welt und thematisieren deren problematischen Charakter ganz bewusst und sehr intelligent. Aber für mich war das nur ein Job, um meine Rechnungen zu bezahlen. Ich hatte keine Vision, was ich mit diesen Geschichten machen wollte – und ich war ehrlich gesagt auch nicht sehr gut in diesem Metier.

Comic-Utopia: In "Hicksville" entdeckt der US-Leonard Batts in Neuseeland einen Ort, in dem sich alles um das Medium Comics dreht.
Comic-Utopia: In "Hicksville" entdeckt der US-Leonard Batts in Neuseeland einen Ort, in dem sich alles um das Medium Comics dreht.

© Reprodukt

In „Hicksville“ haben Sie diese desillusionierende Erfahrung der Mainstream-Comic-Industrie auf sehr detaillierte Weise beschrieben – bevor Sie selbst dort einstiegen. Den Zynismus, die Enttäuschungen, die verratenen Ideale, die geistige Unterforderung, die Geschäftemacherei. Trotzdem haben Sie sich dann in diese Branche vorgewagt.

Manchmal sind die Geschichten, die man erzählt, weiser als man selbst. Ich glaube, ich war damals einfach nicht offen genug, die richtigen Schlüsse aus meinem Buch zu ziehen.

Das heißt, Ihre heutige Ambivalenz gegenüber „Hicksville“ hat mehr zu tun mit dem, was nach dem Buch passierte, als mit dem Buch selbst.

Ja. Dazu kommt, dass ich Teile von „Hicksville“ vor 20 Jahren gezeichnet habe. Einige dieser Zeichnungen wirken auf mich heute unbeholfen und peinlich. Ich habe angesichts der Neuauflage kurz überlegt, ob ich das ganze Buch noch mal neu zeichnen soll. Aber dann wäre ich die nächsten zehn Jahre damit beschäftigt und würde danach wahrscheinlich nie wieder ein Buch zeichnen. Also ließ ich es unverändert und ergänzte es nur um eine neue Einführung. Aber die Geschichte gefällt mir immer noch sehr gut. Ich habe sieben Jahre an diesem Buch gearbeitet und sehr viel Persönliches darin einfließen lassen.

In einer Anthologie neuseeländischer Comics, die Sie zur Frankfurter Buchmesse zusammengetragen haben (hier kann man sie herunterladen), heißt es, die Größe und die Abgeschnittenheit des Landes vom Rest der Welt haben die Szene besonders stark geprägt. Auf welche Weise?

Wir sind als Land einfach zu klein, um eine kommerzielle Comic-Industrie zu haben. Und wir sind zu weit weg von den meisten anderen Ländern, um wirklich dazuzugehören. Das heißt: Wer in den vergangenen Jahrzehnten in Neuseeland Comics gemacht hat, hat das aus Liebe zum Medium getan, nicht um des Geldes oder des Erfolges willen. Neuseeländische Zeichner sind besonders leidenschaftlich und sind gewohnt, alles selbst zu machen. Daher hat jeder Zeichner seine ganz eigene Stimme entwickelt, weil fast keiner von uns Teil einer etablierten Branche ist. Die Isolation ist in den vergangenen Jahren aber zurückgegangen, zum Teil wegen des Internets und zum Teil wegen der großen Offenheit, mit der Neuseeländer in die Welt hinausgehen und sich von anderen Ländern inspirieren lassen. Wir sind uns bewusst, dass wir am äußersten Rande der Welt leben – aber wir kämpfen mit ganzer Kraft gegen die Isoliertheit an und versuchen, so international wie möglich zu sein. Wir reisen viel und nehmen Einflüsse aus der ganzen Welt auf, aus Asien, Nordamerika, Europa. Aber mischen dies mit Elementen aus unserer eigenen Kulturgeschichte. Für mich ist Neuseeland das Zentrum der Welt, auch wenn ich weiß, dass wir aus Sicht der übrigen Welt ganz am Rande liegen. Deswegen nehme ich viele Elemente aus unserer Vergangenheit mit in meine Erzählungen auf und kontrastiere sie mit dem Neuseeland-Bild, das man von außen von uns hat.

Auf Deutschlandtour: Dylan Horrocks vor einigen Tagen in Berlin, von wo aus er nach Frankfurt weiterreiste.
Auf Deutschlandtour: Dylan Horrocks vor einigen Tagen in Berlin, von wo aus er nach Frankfurt weiterreiste.

© Lars von Törne

Welche Rolle spielt dabei die Kultur der neuseeländischen Ureinwohner, die in Ihren Arbeiten immer wieder durch Referenzen zu Maori-Mythen und bekannten Persönlichkeiten wie zum Beispiel einem legendären Häuptling zu sehen ist, der in „Hicksville“ eine Nebenrolle spielt?

Es ist ein wichtiger Einfluss, der aber nicht immer direkt sichtbar ist. Mein neues Buch zum Beispiel, an dem ich gerade arbeite, erzählt von einem Comiczeichner, der am Schreibtisch Fantasiewelten entwirft. Eines Tages niest er – und findet sich plötzlich in dieser Fantasiewelt wieder. Der Grund ist ein magischer Stift, der seinen Benutzer Traumwelten betreten lässt, wenn der Atem des Lebens den Stift berührt. Das basiert auf der überlieferten Maori-Mythologie. „Tihei Mauriora“ heißt in der Sprache der Ureinwohner „Der Nieser des Lebens“. Das bezieht sich darauf, dass der erste Mensch geschaffen wurde, indem der Waldgott Tāne Mahuta Leben in ihn hinein nieste.

Wie sieht es bei anderen neuseeländischen Comiczeichnern aus?

Einer unserer besten Zeichner ist Chris Slane, der Graphic Novels mit Geschichten aus der Maori-Mythologie erzählt, zum Teil in Zusammenarbeit mit einem Maori-Dichter. Das sind sehr faszinierende Geschichten, in denen die Geschichte unseres Landes aus Sicht der Ureinwohner erzählt wird. Und der Zeichner Matt Tate arbeitet derzeit an einem Comic-Buch über neuseeländische Folklore, in dem die Geschichten der Maori und der europäischen Bewohner Neuseelands zusammen präsentiert werden. Man kann in Neuseeland nicht leben, ohne sich mit der Maori-Kultur zu beschäftigen. Zum einen weil 15 Prozent der Bevölkerung Maori sind. Vor allem aber weil die zunehmend selbstbewusste Maori-Kultur in den vergangenen Jahrzehnten Teil des Mainstreams geworden ist, zahlreiche Regisseure, Autoren und Musiker haben einen Maori-Hintergrund. Und zahlreiche Wörter in unserer Sprache sind von den Maori übernommen, wie „Whanau“ – Familie - oder „Aroha“ – Liebe – sind Teil unserer Alltagssprache geworden. Also finden sie sich auch in unseren Comics wieder.

Vom Ende der Welt: Cover der Anthologie neuseeländischer Comics, die Dylan Horrocks zur Frankfurter Buchmesse zusammengestellt hat.
Vom Ende der Welt: Cover der Anthologie neuseeländischer Comics, die Dylan Horrocks zur Frankfurter Buchmesse zusammengestellt hat.

© Promo

Das Gespräch führte Lars von Törne. Mehr von und über Dylan Horrocks gibt es auf seiner Website.

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