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© Illustration: Rattelschneck

Rattelschneck: Künstler mit Kuli

Ihre Cartoons sind simpel – und weise: Der Berliner Marcus Weimer ist die Hälfte des Duos Rattelschneck. Eine Begegnung.

Bekannt aus fast allen deutschen Zeitungen und Zeitschriften außer der „Hörzu“ – so wird Marcus Weimer bei der Eröffnung seiner Ausstellung in der Oranienstraße vorgestellt. Es ist jedoch nicht sein bürgerlicher Name, der berühmt ist. Unter dem Pseudonym Rattelschneck hat Weimer – zusammen mit seinem Zeichnerkollegen Olav Westphalen – in rund vierzig Publikationen Comicstrips veröffentlicht. Zu ihren Auftraggebern zählen die „Zeit“, die „Süddeutsche Zeitung“, „Jungle World“ und „Titanic“.

Das verstreute Werk wird seit 1991 immer wieder in Sammelbänden zusammengefasst. Das inzwischen siebte Rattelschneck-Buch heißt „Helden und Geschichten“ und ist gerade bei Carlsen erschienen. In der Galerie Knoth & Krüger in Kreuzberg werden noch bis 10. Februar Originalzeichnungen gezeigt, darunter Episoden von „Stulli, das Pausenbrot“ und dem Krickelcowboy „Lebkuchen Jonny“, aber auch viele Einbildwitze.

Eigentlich, sagt Marcus Weimer am Eröffnungsabend, sind ihm Bücher gar nicht wichtig. Und Ausstellungen auch nicht. Wichtig sind ihm Zeichnungen. Die richtige Stellung der Augen, die Körperhaltung der Figuren, ihre Hände, der Text in den Sprechblasen. Rattelschneck-Zeichnungen zelebrieren die absurde Abwandlung von Standardsituationen, stecken voller Schräg- und Doofheiten, haben auch mal Mut zur gepflegten Geschmacklosigkeit – und sind oft ziemlich weise.

„Ich bin ein Denker“, sagt Weimer. „Ich stelle mir Aufgaben.“ Über die denkt er nach, am Küchentisch in seiner Dachwohnung im angenehmsten Teil Kreuzköllns, in der er seit zehn Jahren mit seiner Freundin lebt, in der Dusche, beim Spazierengehen. Und irgendwann ist dann etwas da. Das Zeichnen dauert nur ein paar Minuten, manchmal Sekunden. Er geht nie ohne Skizzenbuch aus dem Haus.

Jede fertige Zeichnung ist für Weimer eine gelöste Aufgabe. „Wenn die auf dem Papier ist, interessiert sie mich eigentlich nicht mehr.“ In seiner Wohnung hängen keine Rattelschneck-Bilder – „die kenne ich ja schon“. Weimer hat auch kein Archiv, nur A4-Blätterstapel in einem weißen Billy-Regal.

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Bei Waechter gelernt. Marcus Weimer in seiner Wohnung in Berlin-Neukölln.

© Kitty Kleist-Heinrich

Für den neuen Band hat eine Verlagsmitarbeiterin die Zettelwirtschaft durchgeschaut – vor Jahren wurden einmal 65 000 Zeichnungen gezählt. Das sei nur ein Bruchteil der Originale, sagt Weimer. Einige habe Olav Westphalen „irgendwo“ eingelagert, andere befänden sich noch bei seinem alten Freund und gelegentlichen Textlieferanten Max Goldt. Vieles sei auch bei Umzügen abhanden gekommen, einiges wurde verkauft.

Der 1963 in München geborene Weimer und sein gleichaltriger Kollege Westphalen haben sich an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg kennengelernt. Hier formte sich der Rattelschneck-Stil – unter dem Einfluss ihres Lehrmeisters F. K. Waechter, eines der Säulenheiligen der Neuen Frankfurter Schule rund um das Satiremagazin „Titanic“. Die beiden jungen Künstler zeichneten damals noch wild drauflos – „die Nase von diesem Zeichner, die Hände von jenem – Waechter hat das immer sofort gesehen“, erzählt Weimer. „Wir haben immer was gezeichnet und er hat gesagt: Das ist scheiße. Aber die Skizzen sind gut!“

Schnell sein, auf den Punkt kommen, das haben die beiden bei Waechter gelernt. „Caricature brute“ wurde das später mal genannt. Wichtigstes Arbeitsgerät ist ein simpler Kugelschreiber: „Ohne die Erfindung des Bic-Kulis hätte es Rattelschneck gar nicht geben können“, grinst Weimer. Sein Stil und der von Westphalen sind einander zum Verwechseln ähnlich. „Wir können beide beides“, sagt Weimer, zeichnen und schreiben. Vielleicht ist Weimers Strich der etwas krakeligere.

Westphalen hat lange in New York gelebt, heute ist er Kunstprofessor in Stockholm. Darum entstehen viele Witze und Ideen am Telefon, per Mail oder Fax. Es sind keine zielorientierten Korrespondenzen und Gespräche, man erzählt sich was, spinnt rum. Und schon sind wieder neue Zeichenaufgaben da. In Zukunft wollen die beiden auch in die Kunstwelt vordringen: Malerei, Skulptur, vielleicht sogar eine Performance, mal sehen.

Weimer mag Abwechslung. Er gibt Workshops, zusammen mit dem Berliner Zeichner OL liest er live aus Comics vor. Außerdem ist Weimer „inhaltlicher Mitarbeiter“ der WDR-Sendung „Dittsche“. Dafür muss er viel „Bild“-Zeitung lesen, steile Thesen und Themen herausdestillieren. Vor jeder Sendung trifft er sich mit dem Dittsche-Darsteller Olli Dittrich und zwei anderen kreativen Köpfen. Das gemeinsame Brainstorming wird zur Grundlage der Meckerarien von Dittrichs Figur.

Wie Dittsche sind auch Rattelschnecks Kuli-Menschlein mickrig, aber berührend. Seine Figuren, schrieb die „Süddeutsche“, sind „keine drolligen Wichte, sondern Riesen der Schwermut“. Bei Rattelschneck ist immer auch die Kehrseite des reichlich vorhandenen Witzes spürbar, das Traurige des Clowns. Auf einer Zeichnung sitzt ein Mann, karierter Anzug, Hut, vor dem Schreibtisch eines Künstleragenten, mit Krawatte und Zigarre. „Ich habe Material für elf Stunden“, sagt der Aspirant, „die Teile meiner Show, die mir am meisten bedeuten, machen zusammen genommen vier Stunden aus, in denen ich die meiste Zeit, Beine breit, Arme weit von mir gestreckt, Augen aufgerissen dastehe und an einsame Momente denke, an Sachen, die ich verloren habe, Ängste und Schmerzen.“

Uah. Das ist so tragisch, dass es schon wieder komisch ist. Aus dieser Spannung entsteht die Kunst.

Ausstellung noch bis zum 10. Februar in der Galerie Knoth & Krüger, Oranienstr. 189 (Kreuzberg), Do bis Sa 18-22 Uhr. Der Band „Helden und Geschichten“ ist erschienen bei Carlsen, 160 S., 19,90 €.

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