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Groteske: Eine Seite aus dem Buch.

© Avant

„Der Affe von Hartlepool“: Wer ist hier eigentlich der Affe?

Wilfrid Lupano erzählt in „Der Affe von Hartlepool“ eine Legende als amüsante Kleinbürgerfarce, Jérémie Moreau findet für das Lehrstück über Ausgrenzung, Nationalismus und Fremdenhass kongeniale Bilder.

1814. Ganz Europa ist von den Galliern besetzt, angeführt von einem Gnom mit großem Ego, Zweispitz und der Angewohnheit, in seiner Weste herumzufingern. Ganz Europa? Nein, das britische Königreich leistet heroisch Widerstand, an vorderster Front das kleine Hafenstädtchen Hartlepool, im Nordosten der Insel…

So ähnlich müssen sich die Hartlepooler wohl selbst sehen, als zur Zeit der napoleonischen Kriege, in Folge eines Sturms ein französischer Dreimaster vor der nordöstlichen Küste Englands sinkt, und es den wagemutigen Bewohnern gelingt, in kollektiver Anstrengung den einzigen Schiffsbrüchigen gefangen zu nehmen, der ans Ufer gespült wurde. Die Freude ist groß, dass in der entlegenen Gegend endlich mal etwas Spannendes passiert, und da der Gefangene eine französische Militäruniform trägt, ist es eindeutig, dass es sich um einen französischen Spion handeln muss.

Wer hört schon auf ein dummes Gör?

Es ist die Gelegenheit, es dieser bedrohlichen Spezies einmal heimzuzahlen, am besten am Galgen. Doch zuvor wird, vor allem zur Unterhaltung der Bevölkerung, ein Tribunal abgehalten, dessen Vorsitz der Schankwirt, Bürgermeister und Richter in Personalunion hat. Damit alles „rechtens“ ist, wird dem „Franzosen“ sogar ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt.

Einige befremdliche Attribute des Gefangenen bieten zwar Anlass zu Irritationen und Mutmaßungen bei den hinterwäldlerischen Bewohnern - warum ist der Franzose so klein und haarig?, warum beißt er so kräftig zu, wenn man ihn rasieren möchte?, was spricht er doch für eine barbarische Sprache! -, bestärkt sie aber letztlich nur in ihren Vorurteilen, wie ein Franzose beschaffen sein mag. Allein ein kleines Mädchen zweifelt am Franzosentum des Gefangenen, und äußert die Vermutung, es könnte sich auch um einen Affen handeln… Doch wer hört schon auf ein dummes Gör? Und woran soll ein Hartlepooler überhaupt einen Affen erkennen, wenn er noch nicht mal weiß, wie ein Franzose aussieht?

Wie in einer historischen Novelle von Charles Dickens

Die Graphic Novel „Der Affe von Hartlepool“ fußt auf einer populären Legende, die unter anderem dazu führte, dass ein Affe namens H´Angus the monkey noch heute das Maskottchen des dortigen Fußballclubs Hartlepool United ist. Zumindest ein Körnchen Wahrheit muss wohl in ihr stecken. Eine Theorie verweist auf einen möglichen Ursprung hinter der Legende, die den Affen nicht wörtlich nimmt: „Powder Monkeys“ wurden die Hilfskräfte an den Kanonengeschützen der Kriegsschiffe genannt, Jungs, die die Kanonen mit Schießpulver füllten - was bedeuten könnte, dass damals kein Affe, sondern ein Kind gehängt wurde. Der erfahrene Szenarist Wilfrid Lupano (u.a. „Alim der Gerber“, Splitter Verlag) hält sich an die geläufigere, klassische Version mit dem echten Affen.

Böser Humor: Eine Seite aus dem Buch.

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Dabei gelingt Lupano eine äußerst intelligent aufgebaute, vielschichtige Adaption der Geschichte. So lässt sie sich als höchst amüsante, deftige Kleinbürgerfarce lesen, die die einzelnen, fast durchweg bösartigen Charaktere sehr treffsicher karikiert und aufdeckt, wie sich das ganze Dorf zum Affen macht. Man glaubt in einer historischen Novelle von Charles Dickens gelandet zu sein, auch, weil die Perspektive einiger Kinder einen interessanten Handlungsstrang ausmacht. Zu Beginn macht ein Reisender auf der Durchreise mit seinem kleinen Sohn Station in Hartlepool, um dort zu übernachten. Der schüchterne Sohn lernt dabei die grobschlächtigen Kinder des Dorfes kennen - und einen Schiffsjungen, ein weiterer, unentdeckter Überlebender des Dreimasters, der seine Herkunft klug verschweigt.

Der Zeichner arbeitete an Filmen wie „Ich – einfach unverbesserlich 2“

Darüber hinaus ist Lupanos „Novelle“ eine treffliche Parabel von allgemeingültiger wie politischer Dimension, die von Ausgrenzung alles Andersartigen innerhalb einer Gemeinschaft, Nationalismus und Fremdenhass handelt und diese Versuchsanordnung ins Groteske steigert. Die personifizierte Groteske ist der krakeelende, demagogische Bürgermeister, der selbst affiger aussieht als der kleine Schimpanse in Uniform. Überhaupt wirken die Späße des zu Beginn so fröhlich herumalbernden Affen weit zivilisierter als die derben Obszönitäten der degenerierten Einwohner Hartlepools. Sein Schicksal wirkt mindestens so berührend, als ginge es um einen Menschen.

Trägt eine Uniform, muss ein Franzose sein: Die Titelfigur auf dem Buchcover.

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Der junge französische Zeichner Jérémie Moreau arbeitete bislang als Character Designer von Animationsfilmen wie der Universal Pictures-Produktionen „Ich – einfach unverbesserlich 2“ und „Der Lorax“. Mit diesem Band schaffte der Comic-Newcomer (nach seinem nur in Frankreich erschienenen Debütalbum „Le suicidaire altruiste“) seinen Durchbruch. Die Zeichnungen scheinen mit Tusche leicht und sicher dahingeworfen zu sein, detailreich und subtil in der Farbgebung.

Ein ungewöhnlicher Look, der gar nicht an den Cartoonstil der Animationsfilmindustrie erinnert und einen sehr vielseitigen, eigenwilligen Künstler verrät. Der Eindruck, dass hier mit der Feder gezeichnet und mit Aquarellfarben koloriert wurde, trügt jedoch: die Graphic Novel entstand komplett am Computer. Moreau gehört wie Bastien Vivès einer neuen Generation von Comiczeichnern an, die mit dem Grafiktablett Bilder erschaffen, die bislang so nur von Hand gezeichnet möglich schienen.

So wie Szenarist Wilfrid Lupano die Legende deutlich inspiriert aufgegriffen hat und mit Raffinesse und Humor neu erzählt, wird sie von Jérémie Moreau kongenial umgesetzt, originell und liebevoll im Detail.

Das Ende ist tragisch, von bösem Humor geprägt und wartet mit einer zukunftsweisenden Pointe auf. Die Geschichte wird dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben.

Wilfrid Lupano und Jérémie Moreau: Der Affe von Hartlepool, aus dem Französischen von Claudia Sandberg, Avant Verlag, 96 Seiten, 19,95 Euro.

Unser Autor Ralph Trommer ist Dipl.-Animator, Autor von Fachartikeln über Comics, Prosatexten und Drehbüchern. Weiter Tagesspiegel-Artikel von ihm unter diesem Link.

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