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Geste des protestes. Marlenes Dumas' Gemälde "The Trophy" befindet sich in der Eremitage.

© dpa

Die 10. Manifesta in St. Petersburg: Tür zu, Fenster auf

Die europäische Wanderbiennale ist in Russland angekommen. Die 10. Manifesta beschwört in St. Petersburg die Freiheit der Kunst und muss sich doch nach der Macht richten.

Der Raum als Bild, das Bild als Raum: Joelle Tuerlinckx’ Installation gleicht einem Vexierbild. Die belgische Konzeptkünstlerin hat einen Saal im Generalstabsgebäude der russischen Armee in St. Petersburg mit rot bemalten Papierbögen ausgekleidet. Dessen westlicher Flügel soll künftig der Kunst gehören. Die Vorderseiten der Blätter zeigen zur Wand, der Betrachter sieht nur noch die roten Farbränder. Kommunismus undercover? Abgesang auf das Geburtsland der Moderne, in dem Malewitsch die Abstraktion erfand? Oder heißt das hier: alles auf Anfang?

Da durchquert Kasper König federnden Schrittes den Saal, reißt ein Fenster auf und gibt den Blick frei auf den Kanal, auf die Stadt. Seine spontane Geste überrascht nicht nur die Ausstellungsbesucher, sondern auch die Passanten auf der Straße gegenüber dem gigantischen Gebäude. Ein nach außen rot verklebtes Fenster, das sich in einen weißen Saal, einen Möglichkeitsraum hinein öffnet – wenn das kein Zeichen ist. Kasper König versteht sich tatsächlich als Fensteröffner, allerdings im großen Stil. Er ist Kurator der 10. Manifesta, der Anfang der Neunzigerjahre gegründeten europäischen Wander-Biennale, die sich auf gleicher Höhe mit der Documenta in Kassel und der Biennale in Venedig sieht.

In ihrem Jubiläumsjahr findet die Manifesta endlich dort statt, wo sie ihrer Bestimmung nach schon lange hätte Station machen müssen: in St. Petersburg, der westlichsten Stadt des Ostens und dem östlichsten Vorposten des Westens. In Amsterdam nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als nomadisches Ausstellungsprojekt gegründet, das die neuen Verhältnisse in Europa durch ortsspezifische Tiefeninspektion mit Hilfe der Kunst zu erhellen versucht, war die Manifesta schon zu Gast in Lubljana, Luxemburg, San Sebastian und zuletzt im belgischen Genk. Nun hat Michail Piotrowski sie eingeladen, Direktor der Eremitage, die in diesem Jahr ebenfalls ein Jubiläum feiert: Vor 250 Jahren gründete Katharina die Große das riesige Museum zur Bewahrung ihrer Schätze, heute befinden sich drei Millionen Artefakte darin: Gala-Uniformen, Porzellane, Schmuck, Rembrandt, Tiepolo & Co..

Aus diesem Anlass hat ihr der umtriebige, Richtung Westpublikum orientierte Museumschef eine Verjüngungskur verordnet, die zur Herausforderung für alle geworden ist: für die altehrwürdige Institution und ihren konservativen Mittelbau, für die Manifesta als weltoffenes Unternehmen, das sich ins Land von Zensur, Homosexuellen-Diskriminierung und Krim-Krise begeben hat – und nicht zuletzt für die freie Kunst. Noch ist nicht ausgemacht, ob die Manifesta zu spät, zu früh oder im letzten Moment kommt, in dem die Tür noch einen Spalt offen steht und kritische Äußerungen möglich sind. Das macht sie zur spannendsten Ausstellung des Sommers. Immer wieder gab es Boykott-Aufrufe aus Sorge vor einer Instrumentalisierung der Kunst, Pawel Althammer und Dan Perjovshi sagten ab. Die holländische Manifesta-Direktorin Hedwig Fijen gestand ein, selbst einen Rückzieher erwogen zu haben.

Jede Arbeit wird daran gemessen, welches Widerstandspotential sie besitzt

Die in der Eremitage und dem Generalstabsgebäude präsentierte Ausstellung geht, überfrachtet von all diesen Fragen, fast in die Knie. Sie ist ordentlich abgelieferte Kuratorenarbeit, wie man sie von dem 70-jährigen Doyen König erwarten kann, dem in seiner Karriere als Akademie-Direktor, Museumschef, Erfinder der Münsteraner Skulpturenprojekte nur noch die Documenta fehlt. Überraschungen liefert diese Manifesta eigentlich keine, dafür ist sie zu stark in gesetzlichen Zwängen (Anwälte prüften jedes Werk auf ihre Zulässigkeit, um keine Angriffsfläche zu bieten) und den erwartbaren Vorlieben ihres Machers verfangen. Ilya Kabakov, Gerhard Richter, Katharina Fritsch, Bruce Nauman, Königs Wegbegleiter aus all den Jahren, sie sind mit von der Partie. Doch die Schau besitzt die Kraft eines Momentums, und das ist mehr, als manche Ausstellung mit überraschenderen Positionen zu leisten vermag.

So wird jede einzelne Arbeit daran gemessen, welch widerständiges Potenzial sie besitzt. Artikuliert sie sich gegen die deprimierenden Verhältnisse in einem Land, das homosexuelle „Propaganda“ verbietet, in Nachbarstaaten einmarschiert und freie Meinungsäußerung unterbindet? Am Tag der Eröffnung wurde gleich die Hälfte des Filmprogramms gestrichen. Fündig wird man in den meterhohen, gläsern überdachten Höfen des Generalstabsgebäudes, in dem Thomas Hirschhorn über mehrere Geschosse mit seiner „Abschlag“ betitelten Installation den Einsturz eines Gebäudes simuliert, von dem noch die oberen aufgerissenen Wohnungen zu sehen sind. Darin hängen originale Malewitsch-Werke. Auf Nachfrage erklärt der Schweizer sybillinisch, hier könnte „ein Erdbeben oder etwas ähnliches“ stattgefunden haben. Dass er den von ihm überdeutlich inszenierten Zusammenbruch einer Zivilgesellschaft, in deren Ruinen sich noch die Avantgarde befindet, am Ende doch nicht benennen mag, spricht Bände für die allgemeine Verunsicherung.

Und auch die Installation von Wolfgang Tillmans kommt eher hasenpfötig daher. Wer explizite Bilder eines „queeren“ Lebensgefühls erwartet, das der deutsche Fotograf immer wieder einzufangen sucht, der wird enttäuscht. Stattdessen muss sich sein Reigen aus privaten Momentaufnahmen und abstrakten Kompositionen mit den benachbarten Gemälden von Matisse messen, die aus der Eremitage herübergeholt wurden, um das Publikum an die neue Adresse zu locken. Beide feiern die Lust, das Leben, das Licht, doch während der französische Maler sie farbkräftig zelebriert, seine Autonomie unbenommen behauptet, wirkt Tillmans fragil, blass, ja beliebig. Im obersten Geschoss des Winterpalais’, in dem Matisse normalerweise hängt, ist jetzt ein Zyklus der Holländerin Marlene Dumas zu finden, die zehn homosexuelle Protagonisten der Weltkultur porträtiert, darunter die Russen Nijinsky, Diaghilew und Tschaikowsky.

Spätestens bei der fabelhaften Malerin Marlene Dumas spürt der Betrachter, welche Hypothek diese permanente Hinterfragung für eine Ausstellung darstellt und dass Künstler als Botschafter freier Meinungsäußerung nur bedingt taugen. Sie sprechen vor allem für sich selbst. Das Dilemma besteht darin, dass sie sich gleichzeitig gegenüber den Größen der Kunstgeschichte und den Einschränkungen der politischen Gegenwart behaupten müssen. Dieser Zwickmühle entgehen eigentlich nur die Spieler, die Charmeure wie Erik van Lieshout, der die legendären Katzen im Kellergeschoss der Eremitage filmte, als Hommage an die Überlebenskünste und anarchischen Qualitäten der „Pussy Cats“. Der Name der schikanierten Punkband Pussy Riot steht an der Wand geschrieben. Oder Francis Alys, der sich einen Jugendtraum verwirklichte und mit einem Lada aus seiner Heimatstadt in Belgien nach St. Petersburg reiste, um das klapprige Gefährt im Hof der Eremitage gegen einen Baum zu setzen, wo es als Menetekel noch immer steht. Kartenmaterial, genaue Berechnungen geben darüber Auskunft, dass der Crash kein Zufall war. Alys will gezielt seine Illusionen begraben – und wohl nicht nur seine.

Gesten des Protests. Otto Zitkos Wandmalerei.
Gesten des Protests. Otto Zitkos Wandmalerei.

© dpa

Die besten Chancen besitzt die Kunst, wenn sie sich selbstbewusst gibt und nicht nur reingemogelt wirkt wie Gerhard Richters „Ema, Akt auf einer Treppe“ zwischen zwei Säulen oder thematisch wegsortiert wie Katharina Fritschs Muschel-Dame im Fossilien-Kabinett. Karla Black gelingt ein solcher Coup in der Zwölf-Säulen-Halle des Winterpalais’, wo sie ihre pudrigen Pigmente auf dem Mosaikboden ausbreitet; ebenso ihrer schottischen Landsmännin Susan Philipsz, die den Aufgang der Neuen Eremitage mit einer Soundinstallation bespielt, einem Klavierkonzert aus zwölf Lautsprechern. Hier finden Raum und Kunst zu einer überzeugenden Allianz: Die abstrakten Arbeiten entwickeln eine eigene Poesie.

Umso mehr vermisst man die Widerhaken, die junge Kunst, die russischen Positionen. Bislang gehörte es zu den Qualitäten der Manifesta, mit dem jeweiligen Ort zu interagieren. Diese Aufgabe wurde an die sogenannten Parallelevents delegiert. Der größte Außenposten ist auf der anderen Seite der Newa zu finden, in einer heruntergekommenen ehemaligen Kadettenschule, die kurz vor ihrer Sanierung steht, um dann der Akademie übergeben zu werden. In den langen Fluren mit den aufgerissenen Dielen, dem Theatersaal und seinen aufgetürmten Zuschauerstühlen, dem breiten Foyer-Aufgang, den als letzten Rest alter Grandezza noch vier klassizistische Vasen zieren, laufen Filme, bauschen sich dem Besucher hängende Tücher mit Augen-, Mund- und Nasenschlitzen entgegen, erinnern alte Holzpaneele an die abgerissenen Datschen vor der Stadt.

Eine Mischung – aus glanzvoller Eremitage und morbiden Locations, aus West-Importen und lokalen Größen, das wäre es gewesen. So aber bleibt die Manifesta ein Gast auf Bestellung. Ihr Erfolg wird sich daran bemessen, wie weit die Fenster auch nach Ausstellungsende geöffnet bleiben.

www.manifesta10.org; bis 31. Oktober.

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