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Kultur: Die Kultur-Ich-AG

Selbst ist der Maler: Produzentengalerien haben in Berlin Konjunktur

Sein Schaufenster hat H. N. Semjon mit Glöckchen und Kugeln geschmückt . Sie sind käuflich, genauso wie die Weihnachtskarte, die er einer Kundin über den Tresen reicht. Doch H. N. Semjon ist kein Einzelhändler, er ist Künstler. Der ehemalige Baselitz-Schüler führt seit 2001 den „Kioskshop“ in der Schröderstraße, einen Laden, der als Werkstatt, Ausstellungs- und Verkaufsraum dient. Die Kugeln und Glocken sind Multiples. Semjon hat sie mit Bienenwachs überzogen – wie alle seine Waren. Rund 600 solcher Produkte stehen in den weißen Regalen, von der Cola-Flasche bis zum Markenzwieback; 2500 sollen es einmal werden. Der „Kioskshop“ ist ein Museum in progress, das unter dem halb transparenten Wachs Designgeschichte und Alltagskultur konserviert.

Herstellung, Werbung und Handel erledigt Semjon in Personalunion und tritt zudem als Kunstvermittler auf. Monatlich lädt er Kollegen ein, etwa Dorothée Berkenheger, die im Januar den Laden in Fäden einspinnen wird. Semjon betreut die Ausstellungen und erhält bei Verkauf 30 Prozent. Ein Ladeninhaber muss rechnen. Deshalb kalkuliert der 41-Jährige auch, wie viel Umsatz er mit seinen Produkten machen muss, um sich eines Tages Gehalt zahlen zu können. Der Künstler, ein Selbstunternehmer.

H. N. Semjon ist nicht der einzige. Die Liste der Berliner Künstlerläden und -galerien reicht von „WandWerke“ und „Kunstprojekt“ in Kreuzberg, über „WBD“, „Capri“, „pugh pugh“, „Kunstfaktor“ und „rekord“ in Mitte, „Meinblau“ und „Büro Spohrs“ in Prenzlauer Berg, über „2yk“ in Treptow und „GFAM“ aus Charlottenburg bis zum Weißenseer „Freitag“. Künstler nutzen den hohen Ladenleerstand, um sich unabhängig von Galeristen und öffentlicher Förderung zu profilieren – in einer Stadt, in die viele Künstler um Galerien und Stipendien konkurrieren. Im Jahr Eins nach Einführung der Ich-AG ist die Welle der Existenzgründungen auch über den Kunstbetrieb gerollt. Es gibt Künstlerläden, Atelier- und Produzentengalerien und nun auch Produzentengalerien mit Manager.

Zum Beispiel die Galerie „rekord“ in der Brunnenstraße. Deren Geschäfte führt der Autor und Filmemacher Thomas Mank, den die zwölf beteiligten Künstler engagiert haben und mit 30 Prozent an den Verkäufen beteiligen. Seit April 2003 zeigen sie reihum Gemälde, Installationen, Objekte und Video-Text-Collagen. Gemeinsam ist ihnen das Sampeln von Alltagsbeobachtungen und Zitaten aus der Kunstgeschichte wie in der aktuellen Ausstellung von Lisa Junghanß und Jenny Rosemeyer. Rechts hat Rosemeyer Scherenschnitte mit Architekturmotiven aufgehängt, links Junghanß Aufnahmen aus ihrem Video, in dem sie als kindliche Pornoqueen auftritt. An der hinteren Wand haben die Absolventinnen der Dresdner Kunsthochschule aus Latten, Fehldrucken und Kitsch eine riesige Assemblage gefertigt, die sich vermutlich nicht leicht verkaufen lässt. In solchen Fällen ist das Vermittlungstalent von Mank gefragt. Wer in der Galerie zu kurz kommt, muss stärker in auswärtigen Ausstellungen präsent sein, für die Mank etwa die Lübecker Overbeck-Gesellschaft gewonnen hat. Nur so hält eine disparate „Zwölfer-Ich-Kultur-AG“ (Mank) zusammen.

Manager zum Klinkenputzen

In Produzentengalerien sind die Künstler die Chefs. Ihr Agent muss ihre Wünsche umsetzen und divergierende Interessen moderieren. Er nimmt ihnen Klinkenputzen und Verwaltung ab und demonstriert, dass sie es mit ihrer Karriere ernst meinen. Manks Auftraggeber sind Mitte dreißig, in einem Alter also, in dem Nachwuchsstipendien seltener und Einkommen wichtiger werden. Und sie gehören zu jener Generation, für die Vernetzung und Professionalisierungs-Seminare keine Fremdworte sind. Kooperationen mit Freunden sichern sie mit Verträgen. „Man möchte sich seine privaten Kontakte ja nicht versauen“, sagt Christian Ehrentraut.

Ehrentraut arbeitet für die Künstler von „Liga“ in der Tieckstraße, dem Kometen unter den Künstlergalerien. Seit ihrem Start im Frühjahr 2002 funktioniert Liga erfolgreich als Markenzeichen. Zehn der elf Künstler malen gegenständlich, thematisieren Raum, Architektur oder Landschaft, und alle haben in Leipzig studiert. Der jüngste Boom der Malerei tat das Seine: Der Durchbruch kam 2003 mit der Ausstellung „sieben mal malerei“ am Leipziger Kunstmuseum. Wer an ihr nicht teilnehmen konnte, rückte in der Herbstausstellung am Kunstverein des niedersächsischen Neustadt in den Vordergrund. Jetzt kann Ehrentraut zufrieden bilanzieren: Nicht nur Liga-Maler Tim Eitel hat mit „Eigen + Art“ eine Erfolgsgalerie gefunden, sondern jeder der elf Künstler erhalte so viele Angebote von Galeristen, dass er sie gründlich prüfen könne – „das ist eine Luxussituation“. Liga hat sich selbst überflüssig gemacht.

Hinter der selbstbewussten Positionierung am Markt steckt ein neues Bild vom Künstler, der seine Tätigkeit nicht als Berufung versteht, sondern als Beruf. Ursache dessen ist nicht zuletzt die Kunst selbst: Im letzten Jahrzehnt hat sie die Grenze zu anderen Metiers verwischt. Der Künstler nähert sich dem kreativen Selbstständigen an. Wie Christiane ten Hoevel. Sie hat Mitte Oktober ein Geschäft im GSW-Hochhaus an der Kreuzberger Kochstraße bezogen und es „WandWerke“ genannt. Hier stellt sie Gemeinschaftsarbeiten mit Kolleginnen aus, vor allem aber präsentiert sie in den roten Regalen ihre Zeichnungen: Vorlagen für die Gemälde, die die 39-jährige Künstlerin auf Wänden von Büros, Wohnzimmern und Cafés aufträgt. Kunden können sich Motive aussuchen, Details, Größe und Preis sind Verhandlungssache. „Es passt zu meinem Angebot, öffentlich ansprechbar zu sein“, sagt die studierte Bildhauerin. Und so arbeitet sie nun an dem Schreibtisch hinten im Laden und wartet auf das Publikum.

Wenn sie im Frühjahr einem zahlenden Mieter weichen muss, wird ten Hoevel, ganz die Selbstständige, Bilanz ziehen und die Weichen neu stellen. Unternehmer müssen planen. H. N. Semjon hat das Programm für das erste Halbjahr 2004 im „Kioskshop“ bereits zusammen. Die Galerie „rekord“ dehnt ihre Ausstellungen auf fünf Wochen aus, um mehr Besucher und Presse zu gewinnen. Und bei „Liga“ ist im April plangemäß Schluss. Auch das gehört zu der neuen Eigenständigkeit: ein Projekt zu beenden, wenn genug Gewinn beisammen ist, in diesem Fall: jede Menge kulturelles Kapital.

Kioskshop: Dorothee Berkenheger, 16.01. bis 14.02., Schröderstr. 1, Di bis Fr 17 bis 19 Uhr

Galerie rekord: Silba & Jold. Lisa Junghanß und Jenny Rosemeyer, bis 17. 01.. Mi bis Sa 11 bis 18 Uhr

Liga: Tom Fabritius. 10. bis 31. 01., Tieckstr. 9, Mi bis Sa 11 bis 18 Uhr

WandWerke: voraussichtlich bis März, Kochstr. 22, Di bis Fr 15 bis 19 Uhr

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