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Auf dem Weg zur Schwedischen Akademie. Wislawa 1996 am Stockholmer Flughafen

© REUTERS/STR New

Die Welt muss ständig neu beschrieben werden: Zum 100. Geburtstag der Lyrikerin Wisława Szymborska  

Drei Neuerscheinungen feiern das Jubiläum der polnischen Literaturnobelpreisträgerin

Was für ein charmanter Umweg: Als Redakteurin des sogenannten Literarischen Briefkastens begutachtete Wisława Szymborska eingesandte Lyrik und Prosa. Einen Debütanten aus Warschau will sie nicht brüsk mit seinem fehlenden Talent konfrontieren. Und so kritisiert sie lieber dessen Schreibgerät: „Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln. Der, mit dem Sie schreiben, macht jede Menge Fehler. Sicher ein ausländischer.“

So kannte man die polnische Literaturnobelpreisträgerin hierzulande noch nicht: Von 1968 bis zum durch das Kriegsrecht erzwungenen Ende 1981 war Wisława Szymborska im Wechsel mit einem Kollegen als Redakteurin des Literarischen Briefkastens tätig. Dabei handelte es sich um eine Kolumne der Krakauer Wochenzeitung „Literarisches Leben“ (Życie Literackie), für die Szymborska bereits seit 1952 arbeitete. Sie selbst hatte im März 1945 in der Zeitungsbeilage „Walka“ (Kampf) debütiert, kurz vor Kriegsende. Sie wusste also, wie sich junge Menschen fühlen, die einer Zeitung hoffnungsfroh ein Gedicht zusenden. Jemandem aus Danzig riet sie: „Versuchen Sie nicht, um jeden Preis poetisch zu sein. Poetizität ist langweilig, weil immer sekundär. […] Die Welt muss ständig neu beschrieben werden, denn sie ist nicht dieselbe wie früher, wenn auch nur deshalb, weil es uns früher nicht auf ihr gab.“

In dieser Antwort spiegelt sich Wisława Szymborskas dichterisches Selbstverständnis. „Chwila“, Augenblick, heißt ihr Band aus dem Jahr 1986, in dem sie ebenfalls den Zufall als wesentliches Element feiert - des Lebens wie der Dichtung.

Ihr sei es immer um maximale Verständlichkeit gegangen, schreibt die verdienstvolle Übersetzerin Renate Schmidgall im Nachwort zu den gesammelten Gedichten: Die Poesie sei durch die jahrhundertelange Fremdherrschaft für die Polen zu einem Lebens-, ja Überlebensmittel und damit identitätsstiftend geworden. Der neue Sammelband baut auf Karl Dedecius‘ Übersetzungen auf, der 1959 mit der Lyrik-Anthologie „Lektion der Stille“ die Polnische Bibliothek bei Suhrkamp begründete. Nun sind auch Szymborskas letzte Gedichte auf Deutsch zu lesen. Obwohl es darin um abstrakte Begriffe wie Materie, Humor oder Gnade geht („Humor und Gnade sind ein passendes Paar. / Er betrügt sie nicht, und sie ist ihm treu.“), erscheinen sie ungeheuer plastisch. Renate Schmidgall hat sie übertragen, so wie mit „Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln“ Szymborskas Anregungen für den literarischen Nachwuchs übersetzt hat - eine echte Trouvaille und unterhaltsame Lektüre.

Wisława Szymborska kam am 2. Juli 1923 als jüngere Tochter eines Gutsverwalters in Kórnik bei Posen zur Welt. Acht Jahre später zog die Familie nach Krakau, das die Dichterin nie mehr verlassen sollte und wo sie Polonistik und Soziologie studierte. Szymborska war keine Globetrotterin, sie reiste ungern, machte lieber Campingausflüge mit ihrem zweiten Mann Kornel Filipowicz, den sie in einem Brief aus dem Sanatorium als „Kornel, du Mangelware!“ anrief: eine Anspielung auf die allgemeine wirtschaftliche Lage wie auf ihre Gefühlslage. Das ist der Szymborska-Biografie „Nichts kommt zweimal vor“ von Marta Kijowska zu entnehmen.  Die in München lebende Journalistin stammt selbst aus Krakau. Der Titel ihres umfassenden, sehr gründlich recherchierten und mit Anekdoten gespickten Buches ist ein Gedichtzitat: „Nichts geschieht zweimal, / auch wenn es uns so schiene. Wir kommen untrainiert zur Welt / und sterben ohne Routine.“

Marta Kijowska gelingt das Kunststück einer lebendigen, sachkundigen und dabei immer diskreten Annäherung an die zierliche, elegante Dame mit den wachen dunklen Augen. Indem sie Szymborska durch die Jahrzehnte begleitet, vermittelt die Biografin auch viel polnische Zeitgeschichte - von der deutschen Schreckensherrschaft im „Generalgouvernement“, antisemitische Umtriebe und Repressalien gegen Intellektuelle Mitte der 1950er Jahre bis zum Ende der bleiernen kommunistischen Volksrepublik, die selbst die prächtige Königsstadt Krakau eintrübte. Der Solidarność-Bewegung trat die Dichterin nicht bei, denn „kollektive Emotionen würden ihr nicht liegen“.

Interviews waren Wisława Szymborska ebenso zuwider, sie verwies lieber auf ihr vielbändiges Werk, das 1996 mit dem Literatur-Nobelpreis gekrönt wurde. In Stockholm wurde sie als „Mozart der Poesie“ gewürdigt, der mit der „Wut Beethovens“ schreibe. In einem der seltenen Dokumentarfilme bekannte sie sich zu Nippes und Boxkämpfen. Außerdem mokierte sich die passionierte Raucherin über die mangelnde Schaffenskraft der Nichtraucher.

Als Wisława Szymborska am 1. Februar 2012 starb, kamen 8000 Menschen zur Beerdigung der unkonventionellen Nationaldichterin wider Willen. Die drei Neuerscheinungen zu ihrem hundertsten Geburtstag zeigen Szymborskas so beiläufig erscheinendes Werk, das es auch für eher lyrikscheue Leser attraktiv macht, in seinem überraschenden Witz und seiner ganzen Strahlkraft.

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