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Nan Goldin bei einer Protestaktion mit der Gruppe P.A.I.N.

© 2022 Participant Film, LLC. Courtesy of Participant

Dokumentarfilm über die Fotografin Nan Goldin: Kampf gegen schmutziges Geld und Verleugnung

Kunstvolle Biografie: Die preisgekrönte Dokumentation „All the Beauty and the Bloodshed“ über Nan Goldins Leben und Werk kommt jetzt ins Kino.

Nan Goldin ist nervös, als sie zum ersten Mal mit einer kleinen Aktivistengruppe ins Metropolitan Museum of Art zieht. „Die Sacklers lügen“, „Tempel des Geldes“, Tempel der Gier“, rufen sie und werfen Tablettenröhrchen ins museale Wasserbecken im sogenannten „Sackler-Flügel“.

Sie protestierten gegen eine der reichsten Familien Amerikas, deren Pharmaunternehmen das Schmerzmittel Oxycodon und andere Opioide aggressiv vermarktet und in Kauf nimmt, dass Hunderttausende davon abhängig werden. Die Aktivisten legen sich starr auf den Boden, erinnern an die vielen Toten, die die Medikamente fordern. Mit dieser Szene startet der Film „All the Beauty and the Bloodshed“.

Die Dokumentation erzählt, wie eine erfolgreiche Künstlerin gegen eine reiche Familien-Dynastie kämpft, die Museen in Amerika und anderswo mit Anbauten, Zuwendungen und Schenkungen bedenkt. Im Zentrum des Films steht aber nicht Nan Goldins Feldzug gegen das schmutzige Geld, sondern ihr Leben insgesamt, ihre Fotografie, ihr politischer Aktivismus – eines ist vom anderen nicht zu trennen.

Nan Goldin fotografierte die Menschen aus ihrem Umfeld.

© Courtesy of Nan Goldin

Die Motivation für Goldins Kunst, so stellt es der Film dar, liegt in ihrer Familiengeschichte; einer Familie, in der Verleugnung und Konformität eine große Rolle gespielt und zu einer Tragödie geführt haben.

LGBTQ-Subkultur seit den 70er Jahren

Goldins intime Fotografie, mit der es die heute 70-Jährige in die Sammlungen bedeutender Museen geschafft hat, wendet sich gegen Konformität, Scham und Stigmatisierung. Der Tabubruch öffnete Nan Goldin den Weg in die etablierte Kunstwelt. Ihre Bilder zeigen das Leben von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Queers, von Sexarbeiter:innen und Drogenabhängigen in Boston und New York seit den späten 70er Jahren, sie zeigen Goldins Freunde, die Künstlerin selbst, Clubs, Glamour, Liebe, Abgründe, Verletzlichkeit.

Zwei Jahre lang hat Regisseurin Laura Poitras Nan Goldin bei den Meetings mit ihrer Protestgruppe begleitet und die Künstlerin interviewt. Entstanden ist keine klassische Dokumentation mit Interviews und Archivmaterial, sondern ein neues Kunstwerk mit Goldins Kunst im Zentrum.

Goldin hat für den Film die Bilder ihres Lebens neu arrangiert, so wie sie es auch in ihrer künstlerischen Arbeit tut. Goldins Markenzeichen sind Dia-Shows, zu denen sie Musik abspielt; immer wieder andere Musik, zu immer wieder anderen Fotokonstellationen.

Über weite Strecken ist die Bilderfolge des Films mit Voiceover der Künstlerin unterlegt, die mit poetischer Klarheit über ihre Familie, ihre geliebte Schwester Barbara, die Freunde, Beziehungen, Gewalt und ihre eigene Drogenabhängigkeit erzählt.

Die Künstlerin Nan Goldin war Teil der Subkultur in Boston und New York.

© Courtesy of Nan Goldin

In ihrer Oscar-prämierten Dokumentation über Edward Snowden wurde Laura Poitras selbst zur Protagonistin, sie trieb das Geschehen voran, präsentiert Fakten und Dokumente. In der Doku über Nan Goldin taucht die Regisseurin zwar ebenfalls kurz mit ihrer Kamera im Bild auf, ab und an hört man ihre Fragen an die Künstlerin, doch der Strang etwa, in dem es um die Überwachung der Künstlerin und ihrer Gruppe geht, versandet.

Der Fokus liegt eindeutig auf Goldins politischer Kunst, nicht auf Poitras eigenem investigativem Journalismus, den es im Zusammenhang mit der Verstrickung von Museen und fragwürdigen, potenten Geldgebern auch gegeben hat.

Goldins Markenzeichen sind Diashows

Der Soundtrack ist es bestechend: Lou Reed und Velvet Underground, Divine, Montserrat Caballé, die Casta Diva singt. Dazu ziehen die Porträts von Strippern, Cross-Dressern, Schwulen und Dropouts vorbei, sie waren stets Goldins erstes Publikum, konnten mitentscheiden, wie sie gezeigt werden wollten. „Sie dachten nicht, sie wären Pioniere oder Rebellen. Sie waren es einfach“, sagt Goldin im Film über ihre Freunde.

Zu Goldins berühmtesten Werkserien, die im Film eine wichtige Rolle spielt, zählt „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“, bei der die Künstlerin rund 700 sehr persönliche Porträts zu einer Diashow und einem Buch verarbeitet hat. Zu sehen auch, Goldins eigenes verprügeltes Gesicht. Sowohl Goldins Vater als auch ihr Ex-Partner Brian versuchten das aus ihrer Sicht zu ehrliche Buch zu verhindern.

Es ist auch ein Film über zwei Familien, die nicht unterschiedlicher sein könnten und die beide etwas vor der Öffentlichkeit verbergen. Bei den Sacklers soll niemand so genau wissen, worauf ihr Reichtum beruht. In Goldins Familie sollen die Nachbarn nicht erfahren, dass die Eltern nicht mit ihrer ältesten Tochter Barbara fertig werden, sie immer wieder in Einrichtungen einweisen, wo ihr eine Geisteskrankheit attestiert wird.

Zu bitter sind die Probleme der Mutter, als dass sich die Familie hätte eingestehen können, dass das Unheil damit beginnt. Dass es eigentlich die Mutter ist, die eine psychiatrische Behandlung gebraucht hätte, erfährt man gegen Ende des Films, als Auszüge aus Barbaras Krankenakten eingeblendet werden.

Der Selbstmord der älteren Schwester verfolgt Nan Goldin bis heute. „Die Kamera war die einzige Sprache, die ich hatte.“ So erklärt sie den Beginn ihrer Karriere, als sie mit ihrem androgynen Schulfreund David Armstrong in Boston um die Häuser zieht und beginnt, ihn zu fotografieren. Die Fotografie gab mir eine Persönlichkeit und eine Stimme“.

Goldin und die von ihr gegründete Aktivisten-Gruppe P.A.I.N ließen sich von den Act-Up-Protesten inspirieren. Wenn sie im Guggenheim Museum protestieren, segeln hunderte von Verschreibungszetteln aus den Rängen ins runde Foyer. Magische Bilder, die belegen, warum politischer Protest und Kunst zusammen funktionieren.

Poitras und Goldin ziehen im Film Parallelen zwischen der Aids- und der Opioid-Krise in Amerika. Bei beiden werden bestimmte Teile der Gesellschaft mit ihrer Krankheit im Stich gelassen und stigmatisiert. Beide spielten auch in Nan Goldins Leben eine Rolle, die selbst nach einer Operation von Oxycodon abhängig war und zahlreiche Freunde an Aids verloren hat.

Goldin hat erreicht, dass zahlreiche Museen heute kein Geld mehr von den Sacklers annehmen, den Namen aus ihren Häusern entfernt haben. Es ist viel, was sie mit den Mitteln der Kunst hier erreicht hat.

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