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Erfahrungshungrig. Michael Rutschky, geboren 1943 in Berlin, im Arbeitszimmer seiner Wohnung.

©  Thilo Rückeis

Frankfurter Buchmesse: Die Melancholie des Ethnografen

Mit Mitte 40 war man auch noch jung: Mit seinem jüngsten Buch „In die neue Zeit“ unternimmt Michael Rutschkys eine Inventur der Wendejahre 1988 bis 1992.

In der Kunst der soziologischen Feinmalerei, der beiläufig hingetuschten Alltagsbeobachtung, die sich von einer Chronik der laufenden Ereignisse zum Sittenbild einer Epoche ausweitet, ist der Berliner Essayist Michael Rutschky noch immer unübertroffen. Sein Meisterwerk „Erfahrungshunger“ war 1980 eine Offenbarung, das Grundbuch einer stilistisch eleganten Essayistik, die sich nicht mehr auf abgenutzte Allgemeinbegriffe, sondern auf die ästhetische Wahrnehmung des Alltags verließ. Diese fein gestrickte Ethnografie des Alltags hat Rutschky seither immer weiter verfeinert. „Mitgeschrieben“, sein vor zwei Jahren erschienenes Aufzeichnungsbuch, das die frühen 1980er Jahre nach dem Kollaps aller ideologischen Gewissheiten protokolliert, setzte mit einem lakonischen Bericht aus dem Innenleben der Zeitschrift „TransAtlantik“ ein. Das „Journal des Luxus und der Moden“, das stolz deklarierte, dass seine Leser „in Buchhandlungen genauso zu Hause sind wie in Delikatessenläden“, war 1980 gegründet worden. Rutschky hatte nach einem Jahr bei der Kulturzeitschrift „Merkur“ bei „TransAtlantik“ angeheuert, ein mit großen Hoffnungen verbundener Neuanfang, der sich rasch als unglückliche Liaison erwies.

In seinem jüngsten Diarium „In die neue Zeit“, das die Jahre 1988 bis 1992 erkundet, wird nun „TransAtlantik“ nur noch in einer einzigen Eintragung erwähnt, die Zeitschrift taumelt da bereits ihrem Exitus entgegen, ihre Einstellung 1991 ist Rutschky keine Notiz mehr wert. Überhaupt treten jene narzisstischen Platzkämpfe um eine exponierte Position im intelligenten Journalismus, all das Antichambrieren, Schmeicheln und Auftrumpfen um Veröffentlichungen im „Spiegel“, der „FAZ“ oder dem „Merkur“, das noch weite Partien in „Mitgeschrieben“ bestimmte, im neuen Aufzeichnungsbuch in den Hintergrund. Nach wie vor stehen die „Sensationen des Gewöhnlichen“ im Zentrum, jene Explorationen der Alltäglichkeiten in den intellektuellen Szenen West-Berlins und Münchens, die Rutschky dereinst in Walter Kellers Zeitschrift „Der Alltag“ zelebrierte und nach 1989 dann ausweitete mit seinen erhellenden Expeditionen ins „Beitrittsgebiet“.

Schluss mit der Selbstbehauptungsmühsal

Hier schreibt nun ein Autor, der die publizistische Selbstbehauptungsmühsal hinter sich lassen will; ein gefragter Essayist, der im Berichtszeitraum von 1988 bis 1992 bereits zu den etablierten Branchengrößen zählt, aber schon als Mittvierziger (Rutschky ist 1943 geboren) um seine Position fürchten muss. Bei einem Zeitungsplanungs-Meeting im März 1989 gerät der Chronist denn auch ins Schwitzen, weil er fürchtet, vor den versammelten „Jungmenschen“ eine peinliche Figur abzugeben: „Nicht nur der Junge Mensch, sollen sie denken, ist zum Unternehmertum auf dem Medienmarkt befähigt, auch Mittvierziger bringen es noch.“ Diese Notiz ist typisch für die hinter einer ironischen Abgeklärtheit verborgene Melancholie, mit der Rutschky den Verlauf des eigenen Lebens kommentiert. So ist es auch als programmatische Pointe zu verstehen, wenn eine Tagebucheintragung davon handelt, dass Rutschky mit seiner 2010 an Krebs gestorbenen Frau Katharina um die Rezension des legendären ideengeschichtlichen Klassikers „Saturn und Melancholie“ konkurrieren muss.

Gegenüber den 430 Seiten des Vorgängerbandes „Mitgeschrieben“ sind die 280 Seiten von „In die neue Zeit“ noch strenger ausgewählt und in ihrer intellektuellen Stimmungslage deutlich eingedunkelt. Wenn hier vom gloriosen „Merkur“ die Rede ist, dann sind es dunkel getönte Berichte vom Sterben seiner einstigen Herausgeber Hans Schwab-Felisch und Hans Paeschke. Ein Kernelement von Rutschkys Aufzeichnungen sind auch die erschütternden Bulletins, die Kurt Scheel, von 1980 bis 2012 Redakteur und Herausgeber des „Merkur“, vom langsamen Siechtum seines Vaters abliefert. Diese Konfrontation mit der Sterblichkeit dominiert auch in den Recherchen und Erinnerungen des Autors an seine Kindheit in der nordhessischen Kleinstadt Spangenberg, die in den Telefonaten mit seiner Mutter zum Thema werden. Man kann den Chronisten der Aufzeichnungen bei seiner behutsamen Annäherung an die Orte der Kindheit beobachten und beim langsamen Herantasten an seinen Großvater, den Industrie- und Stadt- Fotografen Max Missmann, von dem Rutschky auch seine Leidenschaft für das Fotografieren geerbt hat.

Sittenbild der späten Bonner Republik

Zu den stärksten Passagen in Rutschkys Sittenbild der späten Bonner Republik zählen die lakonischen Porträts von Protagonisten der sich auflösenden DDR-Literatur. Am Beispiel des Schriftstellers Thomas Günther und der 2014 verstorbenen Helga Königsdorf beschreibt Rutschky in schöner Prägnanz die Ambivalenzen der vom SED-Staat traktierten Autoren, die sich trotz aller Repressionserfahrungen eine Loyalität gegenüber ihrem Land bewahrten. Bei seinen Erkundungsgängen in die „neue Zeit“ wird der Autor letztlich immer wieder von ganz alten Leiden überwältigt – der Seelenlähmung, gegen die auch seine gelegentlichen Reisen nach Fernost oder in die USA nichts ausrichten können.

Das Buch endet mit der liebevollen Beschreibung eines einsamen Diebs in einem Berliner Supermarkt sowie der sarkastischen Kommentierung des bis heute in seinen Umständen nicht aufgeklärten Doppeltodes der ehemaligen Grünen-Stars Petra Kelly und Gert Bastian, bei dem er zunächst sie erschoss, bevor er Hand an sich selbst legte. Die „neue Zeit“ – ihre Verheißungen sind in Michael Rutschkys Buch schnell aufgezehrt.

Michael Rutschky: „In die neue Zeit“. Aufzeichnungen 1988–1992. Berenberg Verlag, 280 Seiten, 25 Euro.

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