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Hör BÜCHER: Stiller sein oder nicht sein

Die Post“, so verkündet feierlich die US-Postverwaltung Los Angeles/Kalifornien in einer dienstlichen Weisung vom 1.1.

Die Post“, so verkündet feierlich die US-Postverwaltung Los Angeles/Kalifornien in einer dienstlichen Weisung vom 1.1. 1970, „hat das einmalige Privileg, täglich mit der Mehrheit der Bürger unserer Nation in Kontakt zu stehen und ist in vielen Fällen deren direkteste Verbindung mit der Bundesregierung. Deshalb hat jeder Postangestellte die besondere Gelegenheit und Verantwortung, sich durch ehrbares und rechtschaffenes Verhalten des öffentlichen Vertrauens würdig zu erweisen.“ Und wie erweist sich Henry Chinaski? Völlig verkatert erscheint er zum Dienst, nachdem er die Nacht zuvor ausgiebig Whiskey gesoffen und seine aktuelle Puppe Betty gevögelt hat. Man müsste, befindet er scharfsinnig, mit scharfem Blick in den Spiegel, auch sein Gesicht kämmen können.

Vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung ist Charles Bukowskis Klassiker der Untergrundliteratur „Der Mann mit der Ledertasche“, nun als Hörbuch erschienen (Hörkunst Kunstmann, 2011). Es liest Matthias Brandt. Diese Besetzungsidee erschien mir, als ich es las, zunächst alles andere als plausibel, doch schon nach wenigen Minuten konnte ich hören, was für eine erstklassige Wahl das in diesem Fall ist.

Bukowskis schmaler Roman ist eigentlich ein Roadmovie. Der Held ist fast ständig auf der Straße unterwegs. Oberflächlich betrachtet, könnte man den Einfall haben, Henry Chinaski, der alle Malaisen des Postbotenlebens erdulden muss, wechselweise von Hunden (ein Klassiker!) oder Hausfrauen angesprungen wird und immer viel zu spät dran ist, als altes, zynisches Raubein zu geben, ein Kotzbrocken eben, stets noch mit einem coolen Spruch auf der Lippe, bevor er den nächsten Schnaps kippt. Matthias Brandt gelingt es, auch die sensible, nie jedoch larmoyante Seite des Helden zu zeigen – etwa wenn Chinaski sich um den Kollegen G.G. kümmert, der eines Nachts unter der Monotonie der Sortierarbeit einfach zusammenbricht. Ein Unglücksrabe hat eben auch einen Blick für das Unglück der anderen.

Charles Bukowski hat selbst elf Jahre Dienst bei der US-Bundespost geschoben. Zwar ist eigenes Erleben nie Garant für gute Literatur, eher im Gegenteil. Aber dieser Botenroman bündelt all das, wodurch die amerikanische Literatur immer wieder besticht: Wir lernen sogenannte „einfache“ Leute mit unverwechselbaren Charakteren kennen. Bei uns hingegen, vielleicht eine Spätfolge des klassischen Bildungsromans, bekommen wir es häufig mit hochkomplexen Akademikern zu tun, die, bei Lichte besehen, erschreckend einfach gestrickt sind und deren menschliches Mitgefühl sich konsequent nur auf die eigene Person beschränkt.

Dass es auch in unseren Breiten unverwechselbarere Typen gibt, zeigt Frischs Stiller. „Stiller ist keine Romanfigur, sondern ein Individuum, ein in jedem Zug erlebter und überzeugender Charakter“, schrieb Hermann Hesse nach Erscheinen von Max Frischs Roman. Das Hörspiel (Der Hörverlag, 2011) in der Bearbeitung von Norbert Schaeffer und unter der Regie von Roman Neumann und Schaeffer selbst beginnt mit jenem Satz, von dem man zwar heute weiß, dass er erst kurz vor Drucklegung ins Typoskript geriet, der gleichwohl aber das interne Bauprinzip des Ganzen darstellt: „Ich bin nicht Stiller!“ Eine Eröffnung wie für ein geniales Schachspiel.

Man stelle sich probehalber einmal vor, der Held hätte am Anfang lapidar verkündet: „Ich bin Stiller!“ Na und, würde man da sagen, dein Problem. Oder eben, gut gelaunt: schön für dich! Aber was kümmert mich das. Die Behauptung, jemand sei nicht Stiller, weckt doch sofort den Wunsch zu erfahren: Wer ist es dann? Und warum will der ausdrücklich nicht Stiller sein? Und ... so weiter. Ein magischer Anfang!

Das Erstaunliche an diesem Hörspiel: Auch wenn man den Roman gut kennt, bleibt es bis zum Ende spannend. Und was noch erstaunlicher ist: Die Bearbeitung geht dabei äußerst werktreu vor. Umstellungen und Kürzungen dienen einzig dem Zweck, Max Frischs Prosa optimal szenisch umzusetzen. Die Regie weiß es nicht besser als der Roman, sie will etwas wissen. Wahrscheinlich ist das das Geheimnis dieser äußerst gelungenen Produktion.

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