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Jurjews KLASSIKER: Die Sonne eines reinen Herzens

Anfang 1945. Ein junger Pionieroffizier der Roten Armee, schwer am Arm verwundet, bekommt vom Militärarzt den Rat, schleunigst damit zu beginnen, jeden Tag etwas zu zeichnen oder zu schreiben, um seine Feinmotorik wiederherzustellen.

Anfang 1945. Ein junger Pionieroffizier der Roten Armee, schwer am Arm verwundet, bekommt vom Militärarzt den Rat, schleunigst damit zu beginnen, jeden Tag etwas zu zeichnen oder zu schreiben, um seine Feinmotorik wiederherzustellen. Sonst könne er seinem Beruf für immer Adieu sagen. Der Patient, der vor dem Krieg Architektur studiert hat, wählt das Schreiben: Seiner epikureischen Natur nach ist ihm Liegen angenehmer als Sitzen, und schreiben kann er bäuchlings auf dem Krankenbett. So entsteht ein Manuskript, das auf Umwegen zu einem einflussreichen Moskauer Kritiker kommt, der sofort Feuer und Flamme ist. Im Jahr 1946 (in den August-, September- und Oktoberausgaben der Zeitschrift „Snamja“) erschien der Roman, der sofort der Kurzsichtigkeit und des Empirismus verdächtigt wurde, beides schlimme Vergehen in der Welt des Sozrealismus. Aber Stalin las „In den Schützengräben von Stalingrad“, wo er nur ein paar Male erwähnt und lediglich einmal aus dem Munde einer Nebenfigur mit Liebe übergossen wird (sicher der Minimalrekord dieser Zeit), und verlieh dem Autor den Stalinpreis 2. Klasse. Die Auszeichnung machte den jungen Literaturstar unantastbar.

Soweit das Märchen über Viktor Nekrassow. Das Interessante daran ist, dass es wahrscheinlich wahr ist: Der Tyrann nahm seinen Namen sehr ernst und las sämtliche nominierten Bücher persönlich. Und fühlte sich nicht an die Dogmen der stalinistischen Literaturkritik gebunden. Doch nach diesem Märchen begann ein zweites, für die sowjetische Literaturgeschichte einzigartiges: Der vor hundert Jahren, im Juni 1911, in Kiew geborene und nach der Demobilisierung nach Kiew zurückgekehrte Viktor Nekrassow erwies sich, trotz seiner Erhebung in die höchste Kulturelite, als nicht korrumpierbar. Genauer gesagt, er erwies sich als unfähig, sich in einen Literaturbonzen zu verwandeln – einen in den Präsidien sitzenden, in Sondergeschäften einkaufenden, alle zwei bis drei Jahre eine neue an den aktuellen Parteikurs angepasste Epopöe verfassenden Opportunisten.

Er sagte immer und jedem, was er dachte, und hatte reichlich Konflikte mit der Schriftstellerverbands- und Parteiobrigkeit, besonders in Kiew. Unter anderem ist es sein Verdienst, dass die Stelle der Massenermordung der Juden in Babij Jar nicht bebaut wurde. Er schrieb Briefe und Artikel, er kam an jedem Jahrestag der Ermordung mit einem Blumenstrauß dorthin, zunächst allein oder mit wenigen Freunden, dann kamen viele. Letztendlich mussten die Machthaber eine Gedenkstätte errichten mit einer Tafel über die Ermordung „der Sowjetbürger“ – das Wort Juden wollte man nicht in den Mund nehmen.

Durch den Stalinpreis geschützt, überlebte Nekrassow die Stalinjahre. Schlimm wurde es erst später für ihn: Chruschtschow gefielen seine Reisenotizen über Amerika nicht (Nekrassow durfte ins Ausland reisen, das war eines seiner Privilegien). In der von Chruschtschows Schwiegersohn geleiteten Zeitung „Iswestija“ erschien 1963 das Pamphlet „Der Tourist mit dem Stock“, in dem Nekrassow der Liebedienerei gegenüber dem Westen bezichtigt wurde. So begann seine allmähliche Verdrängung aus der Sowjetliteratur, die zu Hausdurchsuchungen und langen Befragungen im KGB führte und 1974 mit der Ausreise in die Schweiz endete (Nekrassow entstammte einer Adeligenfamilie und hatte Verwandte unter den alten Emigranten).

Er siedelte sich in Paris an, arbeitete beim Funk, publizierte in russischen Exilzeitschriften und -verlagen. Auch in der wespennestartigen Gemeinschaft der russischen Exilautoren der 70er-80er Jahre blieb er sich treu: immer für einen giftigen Scherz und einen kräftigen Schluck gut. Am 3. September 1987 starb er.

Er war kein Berufsdissident. Er war ein sonniger Junge und feiner Mensch, der sich weigerte, sich durch Lüge und Vorsicht erniedrigen zu lassen. Und er war der Autor von „Stalingrad“, des ersten sowjetischen Buches, das den Krieg so zeigte, wie er sich anfühlte. Dieser kleine Roman, der in der Übersetzung von Nadeshda Ludwig auf Deutsch im Aufbau Verlag vorliegt, ist vielleicht sein einziges großes Buch, aber es hat bis heute jede Zeitprüfung überstanden.

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