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Jurjews KLASSIKER: Jedes Wort hat sein Bewusstsein

Er gehörte zur Spätromantik, allerdings zu einer solch späten, dass sie schon in die Frühmoderne mündete. Die eigentliche Moderne, verkörpert in Charles Baudelaire, entstand zwar erst Mitte des 19.

Er gehörte zur Spätromantik, allerdings zu einer solch späten, dass sie schon in die Frühmoderne mündete. Die eigentliche Moderne, verkörpert in Charles Baudelaire, entstand zwar erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris. Doch Cyprian Kamil Norwid, 1821 in Laskowo-Gluchy unweit von Warschau in eine Familie von mittlerem Adel geboren und früh verwaist, trug etwas in sich, das ihn für die neue Epoche sensibilisierte – nicht nur, weil er selbst mehrere Jahre in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts lebte und dort 1883 in einem Armenhaus übrigens auch starb.

Die erste Welle der Moderne verbreitete sich von der Seine aus. Die zweite Welle wogte um die Jahrhundertwende von den äußeren Rändern der „zivilisierten Welt“ her: Ägypten (Konstantinos Kavafis), Portugal (Fernando Pessoa), Russland (Alexander Block). Und die dritte nahte zwischen den Weltkriegen im Osten und Süden Europas – Serbien, Tschechien, Rumänien und eben Polen.

Doch entsprechend der Zwitternatur Polens hat es dort nicht eine, sondern zwei Modernen gegeben. Eine, die vom Osten, von der neuen russischen Literatur abstammt – in Gestalt von Boleslaw Lesmian, Julian Tuwim, Konstanty Ildefons Galczynski, Bruno Schulz. Und eine, die sich am Westen orientiert. Ihr bekanntester Vertreter ist Czeslaw Milosz. Das bedeutet nicht, dass die polnische „westliche Moderne“ nichts von der russischen Literatur und die „östliche“ nichts von der westlichen wissen wollte. Es geht vielmehr um die grundlegenden Muster der Wahrnehmung und des Ausdrucks. Doch an der Urquelle beider polnischen Modernen steht Norwid. Darin liegt seine Bedeutung für die ganze Kulturentwicklung des „östlicheren“ Europas.

1842 fährt er nach Dresden zum Studieren. Und weiter geht die Odyssee eines unermüdlichen, aber immer kränker, ärmer und unglücklicher werdenden Vagabunden: Venedig, Florenz, Rom, Berlin (verhaftet und ausgewiesen als angeblicher Revolutionär), Paris, London, USA, wieder Paris. Fast blind, fast taub, mit Schwindsucht und anderen Gebrechen. 1855 teilte ihm das russische Außenministerium mit, dass er als Emigrant gilt und alle seine Besitztümer (nicht viele) konfisziert wurden, wegen seiner Nichtrückkehr nach Russisch-Polen und seiner Tätigkeit in den polnischen Exilorganisationen.

Norwid kannte beide großen polnischen Romantiker, Adam Mickiewicz und Juliusz Slowacki, teilweise über die Tätigkeit in den erwähnten Exilorganisationen, wurde zum Dritten in dieser heiligen Dreifaltigkeit der polnischen Poesie, aber erst am Ende des 19. Jahrhunderts, posthum. Heute sehen Mickiewicz und Slowacki etwas veraltet aus und sind im Grunde nur historisch interessant. Norwid bleibt lebendig und wirksam.

Joseph Brodsky, der Norwid übersetzte (seine Übertragungen wurden in der UdSSR unter Pseudonym veröffentlicht, weil er bereits im Westen war), meinte, Norwid sei „der beste Lyriker des 19. Jahrhunderts, besser als Baudelaire“. Ich verstehe diese Vergabe von Plätzen nicht mehr (in meiner Jugend verstand ich sie, sie war selbstverständlich für die Zeit), aber Norwids Gedichte haben tatsächlich überirdische Qualitäten.

In seinem Langgedicht „Über die Freiheit des Wortes“ (1869, wieder nachzulesen in dem vor zwei Jahren beim Leipziger Literaturverlag wieder erschienenen gleichnamigen zweisprachigen Band, deutsch von Peter Gerisch) durchstreift Norwid alle möglichen Bereiche der Philosophie, Geschichte und Religion mit schlafwandlerischer Sicherheit. Die Form mag veraltet anmuten, vorromantisch, klassizistisch sogar. Doch der Leser begreift allmählich, dass es hier um die Freiheit des Wortes selbst geht, und nicht um die des Menschen, der das Wort benutzt.

Im Gegenteil, der Mensch nimmt „das innere Wort“ gefangen, die Norwid’sche Freiheit des Wortes ist die Freiheit des Wortes vom Menschen. Es ist die wunderbare Vorahnung einer neuen Poesie, die sich auf die Selbstständigkeit des poetischen Wortes gründet, auf die Idee, dass die Sprache so etwas wie ein eigenes Bewusstsein hat und die Aufgabe des Dichters darin besteht, die Selbstverwirklichung des Wortes zu gewährleisten. Norwid hat diese Aufgabe bravourös erfüllt.

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