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Christopher Schmidt

© Alessandra Schellnegger/SZ

Kritiker Christopher Schmidt gestorben: Leser aus Liebe

Christopher Schmidt schrieb für die "Süddeutsche Zeitung" sehr besondere Texte. Jetzt ist er mit 52 Jahren gestorben.

Von Gregor Dotzauer

Was passiert, wenn man jemandem, den man zuvor nur vom Lesen kannte, leibhaftig begegnet, ist immer wieder eine spannende Sache. Wie viel von dem Bild, das einer von sich im Schreiben entwirft, findet sich in der Person wieder? Welche Maßstäbe gelten für Übereinstimmung und Abweichung? Manchmal tut man auch gut daran, sich alles Vergleichen zu ersparen. Im Fall von Christopher Schmidt, der in den vergangenen 16 Jahren zuerst Theaterkritiker, dann Literaturchef der „Süddeutschen Zeitung“ war, gab es zuletzt keine Wahl. Erst vor gut vier Wochen verbrachten wir einige Tage in Litauen, das sich nun bei der Leipziger Buchmesse präsentiert. Eine Reise, die es umso gespenstischer erscheinen lässt, dass er jetzt im Alter von 52 Jahren überraschend in München gestorben ist.

Treue zum Theater

Schmidt, 1964 in Hilden als Sohn eines Bühnenbildners und einer Kostümbildnerin geboren und in Düsseldorf aufgewachsen, hatte Germanistik und Philosophie studiert, auch an der Freien Universität Berlin. Sein kritisches Werkzeug probierte er zunächst vor allem am Theater aus, einer Welt, der er bis zuletzt die Treue hielt. Bei alledem war er aber von Anfang an ein hingebungsvoller Leser erzählender Literatur aus vielen Epochen. Im Büchercafé „Mint Vinetu“ in Vilnius, wo sich eine russische Klassikerbibliothek aus braunen Buchziegeln meterhoch an der Wand stapelte, erinnerten wir uns daran, wie wir als Studenten die spottbilligen Leinenausgaben der Bibliothek der Weltliteratur aus dem Ostberliner Aufbau Verlag auf bundesrepublikanischen Grabbeltischen gekauft hatten.

Als er in der „SZ“ das Fach wechselte und dabei „Streiflicht“-Autor blieb, war er nicht nur auf der Höhe seiner handwerklichen Möglichkeiten. Er hatte das Privileg, sich dem Literaturgewerbe mit ebenso geschultem wie frischem Blick zu widmen. Während er vor allem der angloamerikanischen Literatur verbunden war, blieb er in seinen Haltungen und Urteilen erfrischend unvorhersehbar. Beuteschemata, die quer durch die Gattungen Kritik oft zur müßigen Übung machen, verwarf er in Einzelfallprüfungen, hinter denen sich im Guten wie im Schlechten kein Programm erkennen ließ. Er argumentierte dicht, kenntnisreich, pointiert und sprachlich-rhythmisch elegant.

Reflexionen in Prosa

Hinter seiner Betriebsdistanz steckte auch eine tief eingewurzelte Menschenscheu – obwohl vielleicht gerade sie ihn zu einem besonders aufmerksamen Beobachter machte. Gegen die berechtigte Versuchung, „Literatur zu einer Hilfskraft der Einfühlung zu machen“, pries er in einem seiner letzten Texte Jonas Lüschers „wohltuenden Laserblick“ in dem Roman „Kraft“ als „schönen Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht“. Christopher Schmidt hatte das seltene Glück, über beides zu verfügen: Intellekt und Empathievermögen.

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