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Sofja Tolstaja: An der zartesten Stelle

Sofja Tolstajas Antwort auf die „Kreutzersonate“ ihres Mannes Leo Tolstoj

Mit einer Idylle unterm Sommerhimmel beginnt dieser Roman. Alles ist farbenfroh, prächtig, heiter. Zwei Schwestern tollen barfuß nach einem Bad im See zurück ins Haus ihrer Mutter. Und sie werden beobachtet: von einem alten Bekannten, der verblüfft bemerkt, dass die Mädchen, während er für ein paar Jahre im Ausland war, junge Frauen geworden sind. Von Anfang an macht Sofja Tolstaja klar, dass ihr Roman mehr sein will als die Replik einer gekränkten Ehefrau. „Eine Frage der Schuld“ ist ein Gegenentwurf zu Leo Tolstojs später Erzählung „Kreutzersonate“, die im zaristischen Russland bereits in zahlreichen Abschriften kursierte, noch bevor sie die Zensur passiert hatte und 1891 zum ersten Mal gedruckt werden durfte.

Sofja Tolstaja, die das Werk aufs Intimste kannte – wie alle Werke ihres Mannes hat sie auch dieses ins Reine geschrieben –, konnte ahnen, was ihr blüht. Nicht nur die Weggefährten ihres Mannes, religiöse Eiferer und vom Elend des Volkes zu absonderlichen Anarchismen angestachelte Sozialreformer, haben die weibliche Hauptfigur mit ihr identifiziert, auch andere Zeitgenossen und die Nachwelt. Seither spukt Sofja Tolstaja als zänkisches Eheweib, das Tolstoj mit ihrer Sinnlichkeit und ihrer 13-köpfigen Kinderschar am Gängelband führte, durch die Literatur. Sie aber wollte kein Opfer sein. Die „Kreutzersonate“ schildert Ehe, Familie und Sexualität auf eine Weise, die pessimistisch zu nennen geradezu euphemistisch ist. Jede Art geschlechtlicher Liebe, sei es vor, während, neben oder nach der Ehe, ist in den Augen des späten Tolstoj verwerflich. Posdnyschew, das Alter Ego des Autors, tötet seine Frau aus Eifersucht und gibt ihr die Schuld. Dennoch setzte sich Sofja Tolstaja bei Zar Alexander III. für die Veröffentlichung ein. Das zeugt von Größe.

Zweifellos ist die „Kreutzersonate“ mit ihrer bitteren Kälte das größere Kunstwerk. Schon zu Lebzeiten haben andere Schriftsteller darauf reagiert, später Autoren wie Max Frisch und Uwe Johnson sowie jüngst Margriet de Moor. Doch wenn man Sofja Tolstaja nicht mit dem Genie ihres Mannes vergleicht, sondern mit anderen Zeitgenossen, sticht ihre Begabung ins Auge. „Eine Frage der Schuld“, geschrieben in den Jahren 1892/93, aber erst hundert Jahre später aus dem Nachlass ediert, ist ein höchst unterhaltsamer, sinnlicher und nachdenklicher Roman.

Sofja Tolstaja macht sich gar nicht erst die Mühe, die steilen Thesen ihres Mannes zu widerlegen. Sie stellt einfach nur ein typisches Frauenschicksal dar, das in vielen Zügen dem eigenen Leben nachgebildet ist. Manche der Problemlagen wirken aus heutiger Sicht veraltet, etwa das fatale Zusammentreffen einer jungen, völlig unbedarften Frau mit einem älteren, erfahrenen Mann in der Hochzeitsnacht. Doch noch immer stellen eher die Männer als die Frauen das Begehren ins Zentrum der Liebe. Seelenverwandtschaft und geistiger Gleichklang mögen ein erfreuliches Präludium sein, das Ziel der Veranstaltung sind sie nicht.

Bei Anna Ilmenew und Fürst Prosorski ist mit den einfühlsamen Gesprächen bald nach der Hochzeit Schluss. Eben noch hat der 35-Jährige um die 18-Jährige geworben, kaum aber hat er sie mit seinem Liebesgeständnis zur Heirat bewogen, behandelt er sie wie einen Gegenstand, den man nach Bedarf benützt. Die junge Frau, mit ihrer Schwiegermutter und dem Mann allein auf dem Gut weit ab von den Freuden der Kindheit, kämpft gegen die Verzweiflung. Ihr Ideal von der Liebe ist hoch. Wieder und wieder versucht sie, dem Mann entgegenzukommen, kümmert sich um den Hausstand, hilft auf den Feldern, korrigiert seine Aufsätze, deren trockener Duktus ihr kaum erträglich ist. Doch sie streiten häufig. Versöhnung findet nur im Bett statt und ist sofort wieder vergessen.

Bald stellt sich die erste Schwangerschaftsübelkeit ein, Kind folgt auf Kind. Als der Arzt nach dem vierten Kind und einer Fehlgeburt meint, man solle es gut sein lassen, droht der Mann, sie zu verlassen. Kein Wunder, dass die zurückhaltende Zuneigung eines schwindsüchtigen Nachbarn, der sich nicht nur für sie, sondern auch für ihre Kinder interessiert, auf Resonanz stößt. „Mehr und mehr umgab sie eine Atmosphäre der Liebe. Weder zärtliche Worte noch grobe Liebkosungen gab es, nichts, wovon die Liebe üblicherweise begleitet ist, doch alles ringsum atmete Zärtlichkeit, alles war Zuneigung und Glück in ihrem Leben.“ Doch dieses Glück ist nicht nur vom nahenden Tod des platonischen Geliebten bedroht, sondern auch von der Eifersucht des Ehemannes. Als er sie eines Tages in flagranti mit einem anderen erwischt zu haben glaubt, packt er einen Briefbeschwerer und wirft ihn ihr an den Kopf. Er trifft genau jene Stelle an der Schläfe, die Sofja Tolstaja, so genau ist der Roman in seinen Motiven komponiert, ganz am Anfang bereits markiert hat, indem sie den Blick des zukünftigen Gatten darauf lenkte: „auf die Durchsichtigkeit der Haut an Annas Schläfen, durch die feine blaue Äderchen pulsten“.

„Verzeih! Dich trifft keine Schuld“, kann die Sterbende noch hauchen, dann ist es vorbei. Starker Tobak, fürwahr. Doch wenn man die autobiografische Skizze, die dem Roman zusammen mit einem instruktiven Nachwort von Ursula Keller, angefügt ist, mit dem Roman vergleicht, versteht man, was die Verklärung der Heldin für die Autorin bedeutet haben mag. In kargster Prosa reiht sich dort Ereignis an Ereignis und Geburt an Geburt. Von den 13 Kindern starben im Lauf ihres Lebens fünf, kaum war eines wieder über den Berg, kränkelte ein anderes. Man kann sich ein solches Leben, zumindest in unseren Breitengraden, heute kaum noch vorstellen. „Eine Frage der Schuld“ ist weit mehr als eine Replik. Es ist die Wiedereroberung der eigenen Kindheit und Unschuld.

Sofja Tolstaja:

Eine Frage der Schuld. Roman. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Mit einem Nachwort von Ursula Keller. Manesse

Verlag, Zürich 2008. 315 Seiten, 19,90 €.

Meike Feßmann

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