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© AFP

Albert Camus: Die Welt, die Wüste, das Meer

Menschenfreund und Menschheitsskeptiker: 50 Jahre nach dem Tod von Albert Camus ist sein Werk aktueller denn je.

Von Gregor Dotzauer

Der wahre Albert Camus ist ein Phantom. Soviel leichter es geworden ist, ihn vor falschen Heldenbildern zu schützen, soviel uneindeutiger, widersprüchlicher, ja mit sich zerfallener wirkt er. Camus war, wie alle postum erschienenen Selbstzeugnisse und neueren biografischen Versuche zeigen, zwar alles andere als ein Verwandlungskünstler, aber jemand, der sich zuverlässig in die Parade fuhr, sobald er sich denkend allzu sicher fühlte. Nach außen gab er den charmanten, selbstbewussten, zuweilen auch arroganten Intellektuellen, von innen lähmte ihn mit zunehmendem Alter eine Melancholie an der Grenze zur Depression.

Er wusste, wie jeder Teil seiner Persönlichkeit früher oder später gegen den anderen aufbegehrte, und er reagierte mit Schreibhemmungen auf das Bild, das die Öffentlichkeit von ihm entwarf. Derselbe Camus, der sich versprach, dem „Mensch in der Revolte“, den er als Antwort auf die metaphysische Unbehaustheit des Zeitalters proklamierte, mit jedem Satz ähnlicher zu werden, hoffte, in den Stand einer glücklichen Bewusstlosigkeit zurückzusinken. „Man kann nicht alles leben, was man schreibt. Aber man bemüht sich darum“, notierte er Anfang der fünfziger Jahre in sein Tagebuch. Und kurz darauf: „Seit jeher hat jemand in mir mit allen seinen Kräften versucht, niemand zu sein.“

Inzwischen konkurrieren mehr Facetten seiner selbst denn je. Ein erbaulicher, politisch abwaschbarer Feiertags-Camus, der nach einer kommunistischen Affäre in den dreißiger Jahren zum Propheten des Antitotalitären wurde – und ein libertärer Unruhestifter. Ein Résistance-Kämpfer, der als Chefredakteur des „Combat“ Seite an Seite mit André Gide und Michel Leiris gegen den europäischen Faschismus anschrieb – und ein sentimentaler, seiner Kindheit in Algier hinterher träumender pied-noir, der im Glauben an ein gerechtes Miteinander von Franzosen und Arabern unter der Sonne einer französischen Leitkultur die Gewalt der antikolonialen Befreiungsbewegung FLN ablehnte. Ein lässiger Humphrey Bogart mit Nietzsche und Dostojewski unterm Trenchcoat – und ein nachlässiger Denker, der sich in seinem Bemühen um stilistische Eleganz die Verachtung der akademischen Zunft von Paul Ricoeur über Edward Said bis zu Pierre Bourdieu zuzog, nicht zu reden von Jean-Paul Sartre, der ihm erst im Moment seines Todes wieder Respekt zollte.

Einigkeit herrscht wohl nur darüber, dass ihn sein Platz im Himmel der Frühvollendeten zur idealen Projektionsfigur macht. Am 4. Januar 1960, im Alter von 46 Jahren, kam er in einem Facel-Véga, den Michel Gallimard, der Neffe seines Verlegers, auf dem Weg nach Paris bei Villeblevin gegen eine Platane steuerte, ums Leben: im Gepäck eine Aktentasche mit dem Manuskript seines letzten, von seiner algerischen Herkunft erzählenden und erst 1994 veröffentlichten Romans „Le Premier Homme – Der erste Mensch“.

Wie sehr die Bilder von der Person aber auch das Werk überlagern mögen: Es spricht für die Strapazierfähigkeit von Camus’ Denken, dass es allen Umarmungen widerstanden hat – sogar der Historisierung. Das Gespött über George W. Bush, der im Sommer 2006 den „Fremden“ als Urlaubslektüre auf seine Ranch im texanischen Crawford mitnahm, klingt bis heute nach. In amerikanischen Blogs finden sich einige amüsant verzerrte Interpretationen der spröden Erzählung, mit der Camus 1942, mit 29 Jahren, seinen Weltruhm begründete: Vermutungen, wie wohl ein schlichtes Gemüt jenen Text lesen würde, in dem Meursault, ein Büroangestellter aus Algier, der gerade stumpf das Begräbnis seiner Mutter absolviert hat, mehr oder weniger versehentlich einen Araber erschießt und, unfähig zur Reue wie zu jeder anderen sinnhaften Einordnung seiner Tat, zum Tode verurteilt wird.

Der überzeugendste Beweis für die Vitalität von Camus’ Weltsicht sind jedoch die zornigen Reflexe des intellektuellen Frankreich auf Nicolas Sarkozys Vorstoß, die Überreste des Schriftstellers aus dem provencalischen Lourmarin, wo er sich nach der Verleihung des Literaturnobelpreises 1957 ein Haus gekauft hatte, ins Pariser Pantheon zu überführen. Nicht nur dass Camus’ Sohn Jean seine Zustimmung offen verweigert und dessen Zwillingsschwester Catherine sich in der aufgeheizten Situation nicht äußern will, der Präsident hat offenbar unterschätzt, wieviel Protest er sich einhandeln würde. Man lese nur, wie scharf der Philosoph Michel Onfray in „Le Monde“ vom 24. November mit ihm ins Gericht geht: jedes Camus-Zitat eine Ohrfeige für die Anmaßung, ausgerechnet die Tugend des „Nonkonformismus“ für Sarkozys Macht- und Staatsbewusstsein zu vereinnahmen.

Man muss Camus nicht vollends in die „Archäologie einer libertären Linken“ einschreiben, wie es Onfray 2007 in seinem Essay „La pensée du Midi“ tut, um ihn zusammen mit Jean Grenier und dem Linksnietzscheaner Georges Palente als Vordenker eines „tragischen Hedonismus“ zu präsentieren. Es gibt aber durchaus Anhaltspunkte, Camus’ „mittelmeerisches Denken“ mit anarchistischen Strömungen in Verbindung zu bringen. Ein aus Deutschland stammender und in Marseille lebender Aktivist hat unter dem Pseudonym Lou Marin in seiner Studie „Ursprung der Revolte“ Camus’ Kontakte mit Jean-Paul Samson, dem Chef der anarchistischen Zeitschrift „Témoins“ herausgearbeitet. An ihre Grenze kommen solche Versuche da, wo sie Camus’ ausgesprochen affektiv geprägtes Denken zu stark rationalisieren wollen. 1951 beantwortete er sich in seinen Tagebüchern die Frage nach seinen „zehn bevorzugten Wörtern“ schlicht so: „Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.“

Dies ist das Material, aus dem sein gegen jedes System gerichtetes Denken gemacht ist, und dass es seine persönlichen Quellen preisgibt, ohne sich auf die Universalität einer abstrakten Vernunft zu berufen, darin liegt ein entscheidender Teil seiner Modernität. Er schrieb manchmal im apodiktischen Ton eines Moralisten, aber er war alles andere als jemand, der vorgab, über absolute Werte zu verfügen. Er wusste allerdings, wie wichtig es ist, die alten moralischen Fragen weiter zu stellen, auch wenn der religiöse Rahmen, der sie aufkommen ließ, längst zerbrochen ist und die Erfahrung des Absurden, wie er sie im „Mythos von Sisyphos“ beschrieb, sich ausbreitete.

Das Christentum war ihm nicht weniger suspekt als der Kommunismus. Beider Glaube daran, dass es nichts Höheres gebe als einen Optimismus, bei dem „Gott oder die Geschichte, je nachdem, den befriedigenden Endpunkt ihrer Dialektik“ bilden, hielt er für verfehlt und verlieh dieser Ansicht in unzähligen Variationen Ausdruck. „Das Christentum ist in Bezug auf den Menschen pessimistisch, aber in Bezug auf das Los der Menschheit optimistisch“, erklärte er etwa in seinem Vortrag „Der Ungläubige und die Christen“ aus dem Jahre 1948. „Nun gut! Ich sage, dass ich in Bezug auf das Los der Menschheit pessimistisch bin, aber optimistisch in Bezug auf den Menschen. Und zwar nicht unter Berufung auf eine Humanität, die mir immer recht beschränkt vorgekommen ist, sondern im Namen einer Unwissenheit, die bestrebt ist, nichts zu verneinen.“

Wie hätte sich die zeitgenössische Theologie nicht davon herausfordern lassen sollen, dass sich ihre humanistische Mission auch ohne Gott bewerkstelligen lässt. Und wie hätte sie ungerührt verkraften können, dass ihr Camus in der Nachfolge von Dostojewski und Kafka zentrale Themen wie die Schuld abspenstig macht. „Wer einem Gesetz anhängt, fürchtet das Gericht nicht“, heißt es in Camus’ verstörendstem Buch „Der Fall“ (1956). „Denn es stellt ihn in eine Ordnung, an die er glaubt. Die höchste aller menschlichen Martern ist indessen, ohne Gesetz gerichtet zu werden, und in ebendieser Marter leben wir.“

In der Figur des „Buß-Richters“ Johannes Clamans hat Camus den Prototyp eines mit allen Wassern der moralischen Korrektheit gewaschenen Gerechten geschaffen, der in einem ausufernden Monolog „ein jedermann und niemand ähnliches Porträt“ herstellt, das am Ende von der Selbstanklage in die Anklage umschlägt. Das gute Gewissen, das einst sein bürgerliches Leben als Strafverteidiger bestimmte, ist nur durch einen hauchdünnen Spalt von dem schlechten Gewissen getrennt, von dem er sich nun, als heruntergekommene Existenz in Amsterdam gestrandet, mit seiner Suada entlasten will. Es geht dabei – und Theologen wie Urs Baumann und Karl-Josef Kuschel haben dies in ihrer mit Camus sehr respektvoll verfahrenden Schrift „Wie kann denn ein Mensch schuldig werden?“ klar erkannt – um eine aus dem religiösen Raum ausgewanderte anthropologische Grunderfahrung.

Mit „La chute“, das nur dringend neu übersetzt werden müsste, ist uns Camus heute näher als je zuvor, wie er uns mit vielen Aspekten zum Verständnis seines Werks erst Jahre nach seinem Tod nahe gerückt ist. Wüssten wir, wie verzweifelt ernst es ihm mit dem „Fall“ war, wenn uns nicht seine erst 1989 erschienenen Tagebücher aus den Jahren 1951 bis 1959 vermitteln würden, wie es im Steinbruch seiner Entwürfe aussah? Könnten wir auch nur annähernd den sich in Johannes Clamans spiegelnden Frauenhelden Camus verstehen, der sich über seinen Charakter immerhin rücksichtslos Rechenschaft abzulegen versucht? Wieviel Material hat erst Olivier Todds über 900-seitige Biografie „Albert Camus – Ein Leben“ (1996) ans Licht gebracht?

Schließlich „Der erste Mensch“. Das mühsam entzifferte handschriftliche Manuskript mag sich, anders als er hoffte, nicht als Krönung seines Werks erwiesen haben. Doch der in jeder Hinsicht schlichte Realismus des Konvoluts, von dem sich nicht sagen lässt, welche Verfeinerungen Camus ihm noch hätte angedeihen lassen, ist ein bewegender Schlüsselroman über seine Kindheit in Belcourt, dem Armenviertel von Algier, ohne den man seine Antriebskräfte nur halb versteht.

Diese Lebendigkeit zeigt sich auch in der Intensität der Camus-Lektüre. „L’Etranger“ ist dem „Nouvel Observateur“ zufolge, der Camus im November zum wiederholten Mal einen Schwerpunkt widmete, mit 6,7 Millionen Exemplaren das bestverkaufte Taschenbuch Frankreichs – noch vor Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“. Mit vier Millionen folgt „Die Pest“. Auch hierzulande ist er noch eine verlässliche Größe, „Der Fremde“ verkauft nach Angabe des Rowohlt Verlags Jahr für Jahr immer noch rund 10 000 Exemplare, „Der Mythos von Sisyphos“, „Die Pest“ oder „Der Mensch in der Revolte“ erreichen deutlich vierstellige Zahlen.

Und sind es nicht billige Einschränkungen von Camus’ Bedeutung, wenn man feststellt, dass er auf der Grundlage seiner europäischen Bildung keinen Ehrgeiz entwickelte, in die islamisch-arabische Welt gedanklich einzudringen? Selbst in seiner tendenziell konservativen Haltung zur Algerienfrage muss man ihm zugute halten, dass er sich politisch klarsichtiger verhielt als Sartre, dessen unerschütterlicher Glaube an den Kommunismus nur noch mit den Torheiten eines Michel Foucault konkurriert, der Ende der siebziger Jahre die Revolution der iranischen Mullahs begrüßte.

„Die Philosophien sind so viel wert wie die Philosophen“, notierte er im Mai 1937 23-jährig in sein Tagebuch. „Je größer der Mensch, desto wahrer seine Philosophie.“ Das ist, wie vieles, was Camus schrieb, kritisierbar. Dass er selbst nie in Versuchung geriet, sein Denken von seinem persönlichen Verhalten zu entkoppeln, darin besteht zumindest eine unbezweifelbare Wahrheit seines Lebens.

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