zum Hauptinhalt
Tilman Rammstedt

© dpa

Auszeichnung: Wir Hundertjährigen

Der Berliner Tilman Rammstedt gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Die Entscheidung für ihn als Preisträger war symptomatisch für einen Wettbewerb, bei dem kein Text herausragend war und keiner nach ganz unten abfiel.

Es gab einige Verwirrung, als am Samstagabend bei den 32. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt der Ingeborg-Bachmann-Preisträger 2008 gekürt wurde. Drei Autoren hatten je zwei Stimmen aus der siebenköpfigen Jury bekommen, Tilman Rammstedt, Patrick Findeis und Markus Orths, und die Jurymitglieder hatten ihre Entscheidung öffentlich begründet. Dann aber, bei der Stichwahl, war aus Zeitgründen alles nur noch ein zwei-oder dreimaliges stilles Abstimmen am Computer, unter Aufsicht eines Justitiars natürlich, aus dem der Berliner Autor Tilman Rammstedt schließlich als Sieger hervorging. Da mussten also noch zwei Juroren gegen ihre Überzeugung für Rammstedt votiert haben, einfach so, ohne öffentliche Erklärung wie hier sonst bei Stichwahlen üblich.

Doch war das eigentlich auch egal, letzlich war diese Unentschiedenheit mitsamt ihrem undurchsichtigen Entscheid symptomatisch für einen Wettbewerb, bei dem kein Text herausragend war und keiner nach ganz unten abfiel. So gewann eben Rammstedt mit seinem lustigen Text über einen „glamourösen Großvater“ (Juror Alain Claude Sulzer), der partout 100 Jahre alt werden will. Und der mit seinem Enkel, dem Ich-Erzähler, um Frauen und anderes konkurriert, trotz mutmaßlicher Kriegsversehrtheit.

Rammstedt, 1975 in Bielefeld geboren, heute in Berlin lebend, Texter und „schlechtester Musiker“ bei der Gruppe „Fön“ und ständiges Mitglied der Lesebühne „Visch & Ferse“, hatte die Lacher auf seiner Seite, das kommt im oft humorfreien Klagenfurt gut: das Publikum im ORF-Sendesaal, das Publikum am Fernsehschirm und Computer, das Rammstedt per Internet zusätzlich den Publikumspreis zuerkannte, und die Jury, die sich bei der Diskussion schwer tat, den Text zu analysieren, („brillant“, „virtuos“), aber das Tiefgründige noch fand. Dabei ist es fast zu leicht, hinter dem sympathischen, aber übertriebenen Pointengeknatter von Rammstedt den tragischen Kern in der Großvater-Enkel-Beziehung freizulegen. Da läuft schnell was leer, ist Vorhersehbarkeit Trumpf.

Genauso hätte aber auch Markus Orths ganz vorn landen können, und zwar mit seiner sprachlich brav-unauffälligen und schließlich mit dem Telekom-AustriaPreis ausgezeichneten Geschichte über ein Zimmermädchen, das als Voyeurin und Ecouteurin die Leere ihres Lebens ausfüllt. Oder Patrick Findeis mit seinem Text über einen verzweifelten Bauern, dem man von seiner Bauart schnell anmerkte, dass Findeis im Deutschen Literaturinstitut in Leipzig sein Schreiben gelernt hat. Findeis bekam dann den 3-Sat-Preis. Favoriten jedenfalls wollten sich nicht herausschälen, und es machte bald der Scherz die Runde, man solle doch alle Texte in eine Trommel werfen und den Sieger per Los bestimmen.

Doch passte das Mittelmaß zu einem Wettbewerb, der von einem eigenartigen Paradoxon bestimmt wurde. Da sollte nach dem Willen der übertragenden Fernsehsender 3 Sat und ORF einerseits alles lockerer, schneller und frischer werden, wofür einige formale Änderungen vorgenommen wurden. Da beschwor der Schriftsteller Ilija Trojanow in seiner Eröffnungsrede die Unterschiedlichkeit aller Anfänge und gemahnte in seiner Ode an Artie Shaws Stück „Begin the beguine“ daran, „daß kein Beginn einem anderen gleicht“. Doch zeichnete sich gerade diese Ausgabe des Ingeborg-BachmannLesens durch Schwingungsarmut aus. War gerade sie ein Beispiel dafür, wie schwerfällig so ein 32 Jahre alter (Fernseh-)Dinosaurier sein kann.

Statt achtzehn Autoren und Autorinnen waren es nun vierzehn, die sich um die nach dem Büchner-Preis wichtigste Literatur-Auszeichnung im deutschsprachigen Raum bewarben; statt an drei Tagen wurde an zwei Tagen gelesen; statt des buddhahaft unbeteiligten langjährigen Moderators Ernst W. Grandits sollte Dieter Moor wortkräftig moderieren. Und statt eine Nacht über ihre Entscheidung zu schlafen, musste die von neun auf sieben Mitglieder reduzierte Jury schon am Samstagabend, drei Stunden nach der letzten Lesung, die Sieger küren, zur vermeintlichen Fernseh-Primetime.

All das hatten die TV-Leute so verfügt – und hatten die Rechnung ohne die Texte gemacht, ohne eine Literatur, die sich schwer auf Fernsehtauglichkeit und bloße Unterhaltung trimmen lässt. Und nicht zuletzt ohne eine Jury, die müde wirkte, uninspiriert. Sie schien ihre Kritik eher wegzuarbeiten als dass sie sich in besonders positiver, euphorisierender oder negativer Weise über die Texte ausließ. Zumal sie einige Male auch daneben lag. Den nicht mehr als soliden Markus Orths „jazze ich jetzt mal hoch“, so Ijoma Mangold. Doch die nicht weniger solide, aber aufregendere Kindheitserinnerung des coolen Schweizers Pedro Lenz kanzelte er aus schwer nachvollziehbaren Gründen als „völlig bedeutungslosen Text“ ab, unwidersprochen.

Dass am Ende Rammstedt gewinnen würde, zeichnete sich nach der Diskussion zwar ab. Doch anders als etwa 2004, als ein Uwe Tellkamp begeistert als Entdeckung gefeiert wurde, anders als im letzten Jahr, als Lutz Seiler im Voraus als Sieger festgestanden hatte und Peter Licht genauso begeistert umarmt wie urteilslos mit kaltem Schweigen bedacht wurde, regierte dieses Mal das „Hm, hm, der Text hat mir gut gefallen“. Und als auch bei Rammstedt Zweifel aufkamen, versuchte Ursula März diese kurzerhand mit dem Hinweis zu zerstreuen, dass das außerhalb dieses Fernsehstudios keinem mehr verständlich zu machen sei. Bei solch apodiktisch-außerliterarischen Argumenten kam der leise Verdacht auf, dass die Jury die Vorgabe, immer an die Quote zu denken, vielleicht stärker verinnerlicht hat, als ihr bewusst ist.

Handwerklich war in diesem Jahr alles okay. Störend aber wirkte, dass das Gros der Texte sich auf die Neurosen und Psychopathologien ihrer Figuren konzentrierten, unter Ausblendung der Umwelt: Enkel und Großvater bei Rammstedt, das Zimmermädchen bei Orths, der Bauer bei Findeis, die männlichen Zwangsneurotiker im Garten bei Clemens J. Setz (der den vierten Preis, den ErnstWillner-Preis erhielt), das Brandopfer bei Sudabeh Mohafez, die junge russische Einwanderin bei Alina Bronski, der Fremdenführer bei Heike Geissler, die Männer in den Gärten bei Clemens J. Setz, der beziehungsgeschädigte Mann bei Martin von Arndt. Und so weiter. Wer mit der Popkultur großgeworden ist, mitten im Arbeitsleben steht, kleine Kinder groß zieht, in Städten wohnt, zwischen Distinktion und Einbauküche schwankt oder sich gerade über eine Gesellschaft wundert, in der drei Wochen nichts anderes zählt als Fußball, fühlte sich in diesen Klagenfurter Tagen etwas fremd. Da war man schon dankbar für kleine Anknüpfungspunkte: für Dagrun Hintzes kulturkritischen Text über eine Journalistin, die inmitten von transitorischen Räumen, von Flughäfen oder Shopping Malls, nach stillen Räumen sucht. Oder für Ulf Erdmann Zieglers perfekte und dichte Erkundung einer deutschen Mittelschichtsfamilie Ende der sechziger Jahre, einer Art rückwärtsgewandten Generation Golf.

So stachen andere Kleinigkeiten und Feinheiten heraus. Zum Beispiel Lebensanekdoten, die Ursula März zum besten gab: In den siebziger Jahren sei auch sie Zimmermädchen gewesen, in einem Sporthotel in Mittelfranken, wo etwa Helmut Schön und seine Mannschaft oder die von Ajax Amsterdam zu Gast waren. Klaus Nüchtern gab ihr später zurück: „Ich hatte eine nicht so spannende Jugend wie Ursula März, werde aber ein spannendes Alter haben.“ Solch lustiges Geplänkel dürfte im Sinn der innovationsfreudigen Fernsehleute sein. Und so gefiel sicher auch Moderator Dieter Moor. Moor mühte sich um Auflockerung („Wie fühlen Sie sich bei diesem Text, Herr Spinnen? Was haben Sie da für einen hübschen Talisman, Frau Bronsky?“), wirkte aber ungelenk. Dass jedoch Jury und Fernsehgewaltige bei allem zur Schau gestellten Biografismus der Jury, ihrem ansatzweise literaturfernen Argumentieren weiterhin zwei sehr verschiedene Sprachen sprechen, davon zeugten die Schlussworte des Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen. Von „change als Chance“ sprach er verhalten, von „Treue zur Literatur“. Und das klang nicht nach: Aller Neuanfang ist schwer. Sondern wie: Wehret den Anfängen!

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false