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Daniel Barenboim: Der Interpret als Philosoph

"Klang ist Leben": Daniel Barenboim hat ein neues Buch geschrieben und denkt so ziemlich alles mit allem zusammen.

Da gibt es, nach wie vor, den Nur-Musiker. Denjenigen, der vor lauter Tasten, Saiten, Rampenlichtern, Partituren die Welt nicht sieht – und sie auch nicht groß zu sehen braucht. Weil er so genialisch empfindsam ist in seiner Weltfühligkeit und Intuition, seinem Urwissen, seinem künstlerischen Zugriff, dass aus jeder Musik wie von selbst Welt wird. Und weil ohnehin keine der Welten da draußen wirklicher, tiefer und klüger sein kann, als sie uns bei Bach, Mozart, Beethoven oder Wagner ertönt und erklingt.

Und dann gibt es da seit geraumer Zeit den Nicht-nur-Musiker, den Musiker als sozial aufgewecktes Wesen. Dieser klappt seine Tastendeckel und Partituren gerne einmal zu, um sich weltlichen Fragen zu widmen, und zwar ganz offensiv. In solchen Fällen transferiert er/sie dann britische Education-Programme auf den Kontinent und lässt darüber sagenhaft erfolgreiche Filme drehen (wie Simon Rattle), gründet Stiftungen für den hochbegabten Nachwuchs (wie Anne-Sophie Mutter), engagiert sich für wilde Tiere (wie Hélène Grimaud), baut professionelle Rennräder (wie der Oboist Christoph Hartmann) oder vermarktet sich ganz einfach selbst, mit allem Drum und Dran (wie Anna Netrebko).

Daniel Barenboim gehört zweifellos zur zweiten Spezies, und wie seine Kollegen müsste er sich eigentlich die Frage gefallen lassen, ob das Musikalische nun das Weltliche legitimiert oder das Weltliche das Musikalische. Ist der israelische Staatsbürger einer der herausragendsten Pianisten und Dirigenten der Gegenwart, weil er sich im Nahost-Konflikt engagiert (mit viel Mut, Herz und Verstand, und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen!) – oder engagiert er sich auch, um der eigenen Bedeutung, dem eigenen künstlerischen Nimbus ein wenig aufzuhelfen?

Dass an Barenboim Fragen wie diese zumeist nicht herangetragen werden, liegt gleich doppelt in der Natur der Sache: Zum einen bietet die desaströse, nahezu aussichtslose politische Lage im Nahen Osten denkbar wenig Gelegenheit, sich mit ihr zu profilieren; zum anderen hat die Öffentlichkeit jeden Grund, einem jüdischen Künstler, der so viel für das Berliner Musikleben getan hat, den nötigen Respekt zu zollen.

Furchtlos, wie er ist, beantwortet Daniel Barenboim nicht gestellte Fragen ganz besonders gern, und genau das tut er jetzt in seinem dieser Tage auf Deutsch veröffentlichten zweiten Buch „Klang ist Leben – Die Macht der Musik“ (die italienische Originalausgabe ist bereits vor einem Jahr bei Feltrinelli erschienen). In sieben Sätzen, vom „Prélude“ bis zum „Finale“ legt Barenboim dar, dass er in der Musik und im Musikmachen nichts Geringeres sieht als ein „alternatives soziales Modell“ und also die Utopie eines besseren, menschlicheren, verständigeren Miteinanders. Musik, schreibt er, sei mehr „als ein durch pure Intensität wirksames Mittel, das uns dabei hilft, unsere Existenz zu erleichtern und die Mühen des täglichen Lebens zu vergessen“; Musik sei „ein Spiegel des Lebens, denn genau wie dieses beginnt und endet sie im Nichts.“ Das Ohr zuallererst trage somit eine „moralische Verantwortung“. Keine kleinen Geschütze.

So bemüht das philosophische Raunen zwischen Aristoteles und Spinoza gerade in den ersten Kapiteln wirkt („Klang und Gedanke“, „Hören und Zuhören“), so bekannt einem vieles vorkommt, aus Interviews oder aus Barenboims Autobiografie „Die Musik, mein Leben“, und so wenig, pardon, man ihm die Denkerpose auf dem Buchcover wirklich abnimmt: Der Mann hat eine Vision. Da ist etwas, das ihn treibt, bei aller Sprunghaftigkeit. Etwas, das erstaunlicherweise immer dann größer ist als er selbst, wenn es weggeht von der Kunst(betrachtung), mitten hinein ins echte Leben. Wenn Barenboim über Wagner in Israel spricht oder das Ramallah-Konzert des West-Eastern Divan Orchestra noch einmal Revue passieren lässt. Wenn er en passant fordert, dass Deutschland sich vermittelnd stärker im Nahost-Konflikt einschalten können müsste. Oder wenn er beobachtet, dass Juden, die im Hinblick auf den Holocaust „nie wieder“ sagen, stets sich selbst meinen, während der Rest der Welt darunter „nie und nirgendwo wieder“ versteht.

Antworten auf ungestellte Fragen? Hübsch so mancher Aphorismus (Schönberg: „Der Mittelweg ist der einzige, der nicht nach Rom führt.“); und eindrücklich, immer wieder, Barenboims Rede in der Knesset 2004, die sich im Anhang findet (neben erstmals im Tagesspiegel veröffentlichten Gedanken des Maestros zu Mozart und Wilhelm Furtwängler).

Am Ende münden Daniel Barenboims Überlegungen zu Musik und Welt, Welt und Musik – von Elena Cheah ansprechend aufgeschrieben, von Michael Müller flüssig ins Deutsche übersetzt – in der furchtbar schlicht anmutenden Gleichung, die Verfassung eines Staates sei die Partitur und die Politiker ihre Interpreten. Ein Allgemeinplatz, der es in sich hat, und vielleicht ist das ja das Problem dieses Buches: Der Horizont, den Barenboim spannt, ist so weit, will auf engem Raum buchstäblich alles und das Ganze, der Bedeutungsdruck ist so hoch – dass sich darunter vieles gleich wieder verflüchtigt. Der letzte Satz? „Musik lehrt uns, dass alles miteinander verbunden ist.“ Ein wenig genauer und konkreter hätte man es dann doch gerne gewusst.

Daniel Barenboim, Klang ist Leben – Die Macht der Musik. Siedler Verlag, 192 Seiten, 18,95 Euro.

Heute um 20 Uhr gastieren Daniel Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra mit Werken von Mozart und Wagner in der Berliner Waldbühne. Restkarten unter Tel. 01805 969 000 555

Christine Lemke-Matwey

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