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Die moderne Form des chinesischen Gesichtsverlusts: Ein Mann schützt sich am 23. Dezember 2015 in Peking mit einer Maske vor dem Smog.

© AFP

Scham und China: Das Gesicht geht überall verloren

Markus Jentsch beschreibt in seinem Buch das Phänomen des Gesichtverlieren. Eine Rezension

Das Streben, sein Gesicht zu wahren, und die Furcht, Gesicht zu verlieren, sind als Charakteristika chinesischer Mentalität das vielleicht bekannteste Merkmal der chinesischen Kultur und Gesellschaft. Max Weber sah seine Wurzeln im Konfuzianismus, aber der Blick in die „Volkszeitung“, das Organ des Zentralkomitees der KP Chinas, zeigt, dass es seine Geltung im Kommunismus behauptet hat. Nicht einmal Maos Kulturrevolution hat daran etwas geändert, da Mao die Kategorie Gesicht „taktisch bald strafend, bald aufmunternd“ einsetzte, wie Peter Jentsch in seiner Studie feststellt. Jüngste Beispiele sind die Großbauten für die Weltausstellung in Schanghai und Olympia in Peking, die als „Gesichts-Bauprojekte“ bezeichnet wurden; wir würden Vorzeigeprojekte sagen.

Das Chinesische hat dafür gleich drei Wörter für Gesicht

Es scheint also, als sei die oft gehörte Behauptung, Ausländer könnten das chinesische „Gesichts“-Konzept nicht nachvollziehen, zumindestens übertrieben, auch wenn Markus Jentsch vom Konsens der Fachliteratur spricht, „dass seine kulturelle Ausprägung das chinesische ,Gesicht‘ einmalig und herausragend macht“. Die 22 Fallbeispiele für ,Gesichts‘-bezogene Verhaltensweisen, die er aus Berichten der „Volkszeitung“ ausgewählt hat, lassen sich durchaus mit dem analogen deutschen Begriff des Ansehens nachvollziehen, der ja ebenfalls eine Gesichtswahrnehmung beschreibt. Ein Unterschied mag darin bestehen, dass der chinesische Begriff von Gesicht – das Chinesische hat dafür gleich drei Wörter: mian, yan und lian – sowohl das Selbstbild wie die Wahrnehmung eines Menschen (sein „Image“) bezeichnet, sodass es ein „doppeltes Gesicht“ geben kann, wenn Selbstbild, Selbstdarstellung und Ansehen der Person nicht übereinstimmen. Den Unterschied zwischen westlicher und chinesischer Sichtweise sehen zwei chinesische Autoren, Chou und Ho, im verschiedenen Ideal des Selbstbildes, das individualistische und kollektivistische Kulturen ihren Mitgliedern vermitteln. Aber auch sie räumen ein, „dass ,Gesicht‘ als Universalie in verschiedensten Kulturen vorkommt“.

Markus Jentsch: Das „Gesichts“-Konzept in China. Fallbeispiele und ausgewählte Aspekte. Nomos Verlag, Baden-Baden 2015. 452 Seiten, 79 Euro.

© Nomos

Welches Gewicht die Vorstellung von „Gesicht“ in der traditionell kollektivistischen Gesellschaft Chinas besitzt, belegen die Fallbeispiele von Menschen, deren „Gesicht“ ihr soziales und moralisches Kapital darstellt. Es kann ererbt, erworben, erschwindelt, durch ein Amt verliehen, vorgetäuscht und verspielt werden: Selbst ein Bettler bettelt nicht in seiner vertrauten Umgebung, um sein Gesicht zu wahren. Eine Mutter, deren Sohn eines Fahrradiebstahls verdächtigt wird, tötet aus Scham sich und ihr Kind. Verwandte schützen vor Gericht das „Gesicht“ ihrer Angehörigen durch Falschaussagen, Untergebene decken ihre korrupten Vorgesetzten. Einladungen und teure Geschenke müssen erwidert werden, Markenkleidung und große Autos verleihen ein „großes Gesicht“. Nur in China?

Markus Jentsch: Das „Gesichts“-Konzept in China. Fallbeispiele und ausgewählte Aspekte. Nomos Verlag, Baden-Baden 2015. 452 Seiten, 79 Euro.

Hannes Schwenger

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