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"Der Verräter": Schreiben heißt Beten

Mit Marx und Freud sich selbst verstehen: „Der Verräter“ von André Gorz wird neu aufgelegt. Die autobiographischen Schriften sezieren existenzialistisch Ich und Welt.

Lebensbeichten haben gewöhnlich etwas Peinliches, zumal, wenn sie von einem abgelegt werden, der das historische Recht auf seiner Seite hatte und sowohl als Theoretiker als auch als Mensch nicht zu Entblößungen neigte. Die Abrechnung, die André Gorz vergangenes Jahr – kurz vor der gemeinsamen Selbsttötung mit seiner todkranken Frau Dorine im September – in Form eines Liebesbriefs hinterließ, gehört zu den seltenen und berührenden Ausnahmen des Genres. In seinem „Brief an D.“ leistete der französische Sozialphilosoph Abbitte für ein „Verbrechen“, das fast 50 Jahre zuvor seinen Anfang nahm: ein falsches Bild von ihr, Dorine, gegeben, die Bedeutung ihrer Beziehung für ihn und sein Werk zeitlebens verleugnet und vor der Welt verheimlicht zu haben.

Eine alltägliche Männersünde, gewiss. Im Fall Gorz gewinnt das späte Entschuldungsritual jedoch eine besondere Dimension, nachdem der Schweizer Rotpunkt Verlag nun ein Frühwerk wieder zugänglich gemacht hat. Der Romanessay mit dem programmatischen Titel „Der Verräter“ – in der Neuausgabe um den bislang unveröffentlichten Essay „Über das Altern“ ergänzt – hatte der damals 35-jährige, noch unbekannte Philosoph in einer Art manischer Selbstsuggestion verfasst und 1958 erstmals auf Französisch veröffentlicht. Darin unterzieht sich Gorz einer schonungslosen Selbstanalyse, die sein subjektives Gefühl der Nichtigkeit mit der objektiven Lage in Einklang zu bringen versucht und vom „Wir“ über das „Du“ zum „Ich“ gelangt. Ausgehend von den beiden Gewährsleuten Marx und Freud, die ihm das Instrumentarium liefern, versucht Gorz „Ordnung zu schaffen“, einen „historischen Standpunkt“ zu sich selbst zu finden.

Gorz’ existenzialistisches Sezieren von Ich und Welt nimmt ihren Ausgang im austrofaschistischen Wien, wo er als Sohn eines alternden jüdischen Holzhändlers und einer aufstiegsorientierten und gefühlskalten katholischen Mutter 1923 geboren wurde. War es objektive Bedingtheit in dieser Welt ohne Verständnis für einen schwächlichen, linkischen Jungen, dass dieser Gerhard Horst (wie Gorz eigentlich hieß) keinen Platz fand und sich „in zwei Hälften geteilt“ fühlte zwischen dem jüdischen Makel und der Stärke der ihn umgebenden Sieger? Früh schon trieb Gorz der Wunsch nach Anerkennung: zunächst ins Lager der Jungnazis, dann in religiöse Selbstkasteiung und – nachdem ihm der Zugang zum „wir“ verwehrt wird – in Manien aller Art. Nach den Nürnberger Gesetzen jüdischer „Mischling“ mit Privilegien, verinnerlichte Gorz seinen Ausschluss, machte aus der biologischen und sozialen Schwäche eine „Wahl“, indem er das Unrecht, das ihm angetan wurde, als verdient anerkannte und in eine metaphysische Überlegenheit umwertete: „Er hielt sich für den Besseren, weil er akzeptierte, der Niedrigste zu sein.“

Doch „Verrat“ beging Gorz nicht nur an seiner jüdischen Herkunft, sondern auch an seiner Muttersprache. Im Internat in Graubünden halbwegs in Sicherheit, imaginiert sich der einsame, seltsam verstiegene Halbwüchsige als „guter Franzose“. Er lernt Französisch, negiert alles Deutsche, staffiert sich „mit einem geliehenen Sein“ aus, das ihn unverwundbar macht.

Schreiben wird für ihn zur Zuflucht und Qual zugleich: Täglich füllt er zwei Seiten „mit seiner winzigen Schrift“, „schreiben war für ihn eine Weise zu beten ... er schrieb, um ein Anderer zu werden, um mit sich selbst Schluss zu machen“. Seinen „Schrei in das Wort zu meißeln“, rettete ihn „vom Zufall der Existenz“. Auf seiner Suche nach dem „absoluten Standpunkt“ entwickelt Gorz einen nicht unbeträchtlichen Hochmut, der ihm zwar „unglückliche Seelen“ zutreibt, aber – zunächst – wenig Liebe.

Nach dem Krieg, noch immer in Lausanne, wird die Begegnung mit Sartre zur schicksalhaften Fügung. In Sartre findet Gorz seinen Meister, sogar seinen „Gott“. Sartre schimpft den wenig tatfreudigen Gorz einen „Essentialisten“, zieht ihn aber dennoch in seinen Kreis und reagiert auf den „Verräter“ sogar mit einem (im Buch abgedruckten) Essay. In Paris wird der Grundstein gelegt für Gorz’ unorthodoxen Marxismus, der ihn von Sartre wieder wegführen wird und zu einem der wichtigsten Theoretiker der postfordistischen Gesellschaft werden lässt.

Als solcher elektrisierte Gorz in den achtziger Jahren auch die verkaterte deutsche Linke, die seinen „Abschied vom Proletariat“ (deutsch 1983) erregt diskutierte, von dem drei Jahre zuvor bei Suhrkamp erschienenen „Verräter“ aber wenig Kenntnis nahm. Vielleicht kam Gorz’ artistische Verquickung von Selbst- und Weltanalyse zu früh, vielleicht wirkte sie auf die immer noch aktionistische Bewegung zu zerquält und subjektivistisch. Die schon im „Verräter“ aufgeworfenen Fragen nach der Wahl der „Rollen“ im kapitalistischen System, nach der Möglichkeit des nicht korrumpierten „Außen“ und dem in der unmittelbaren Erfahrung gelebten „Reich der Freiheit“, waren von solch philosophischer Abstraktion, dass sie sich nicht als Handreichung zum Handeln bündeln ließen.

Zum realistisch lebbaren „Reich der Freiheit“ öffnete dem introvertierten Philosophen seit den späten vierziger Jahren Dorine die Pforten. Dass er im „Verräter“ ein so schiefes, falsches Bild von ihr gezeichnet hatte, veranlasste den 83-Jährigen nicht nur zum erwähnten Brief, sondern zu einer eigens in die Neuauflage eingerückten „Nachbemerkung“, die sich als Entschuldigung lesen lässt. Wenn man so will, überwindet Gorz mit den beiden autobiographischen Schriften seine „Angst vor Identifizierung“, der Wunsch nach nachgetragener Verzeihung treibt ihn vom „Er“ zum „Ich“. Das ist schon viel bei einem Denker, der das „Man“ zum zentralen Reflexionspunkt machte; wenig allerdings, wenn man bedenkt, dass auch der alte Gorz seine Frau Dorine, bei aller Liebe, lediglich als Mittlerin zur Welt wahrgenommen hat.

André Gorz: Der Verräter. Einleitung von Thomas Schaffroth. Nachwort von Jean-Paul Sartre. Aus d. Französischen von Eva Moldenhauer. Rotpunkt-Verlag, Zürich 2008. 441 S., 27,50 €.

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