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E. L. Doctorow: "Der Marsch"

Das Atmen der Armee: E. L. Doctorow seziert den amerikanischen Bürgerkrieg.

Pearl zum Beispiel, Tochter eines Südstaaten-Farmers und einer Sklavin, fünfzehn Jahre jung, aufgewachsen irgendwo in Georgia. Plötzlich kommt der amerikanische Bürgerkrieg über ihr Städtchen, in Gestalt der Armee des General Sherman, die sich wie eine Feuerwalze durchs Land frisst. Ihr Vater und Besitzer ist tot, die Häuser stehen in Flammen, die Sklaven sind befreit und sprengen panisch auseinander. Da kommt Leutnant Clarke angeritten, reißt Pearl zu sich aufs Pferd und nimmt sie mit auf den monatelangen „Marsch“ durch Georgia und Columbia und North Carolina, in dessen Verlauf man entweder stirbt – oder zum anderen Menschen wird. Nach dem Tod ihres Beschützers kommt Pearl wegen ihrer hellen Hautfarbe und des androgynen Aussehens als Trommeljunge bei der Armee unter, bevor sie als Krankenschwester bei Amputationen assistiert, nebenbei an der Heilung des amerikanischen Traumas mitwirkt und den weißen Peinigern ihrer Kindheit verzeiht. Gegen Ende, innerlich gewachsen, sitzt dieses Mädchen wieder auf einem Leiterwagen, inzwischen Mutter eines Jungen, Frau eines stillen Soldaten, der irgendwo Jura studieren will, und zieht weiter. Da ist der Krieg längst vorbei, die Generäle rauchen ihre Friedenszigarren, doch Pearl kann nicht anders. Sie muss vorwärts. Das Fahren ist ihr zur Heimat geworden.

Das ist eines von zwölf Schicksalen, die E.L. Doctorow, Autor von „Ragtime“ oder „Billy Bathgate“ und in der amerikanischen Gegenwartsliteratur traditionell für historische Themen zuständig, in seinem neuen und großartigen Roman „Der Marsch“ beschreibt. Er spielt im Jahr 1865 – als der Bürgerkrieg in den letzten Zügen liegt und die Rebellen der Südstaaten kaum noch Chancen gegen die hochgerüstete Armee der sogenannten Union haben. „Wir sind ein riesiger Organismus, und das Hirn dieses Wesens ist General Sherman“, erklärt jemand der wissbegierigen Pearl. Die Hauptfigur des Romans ist die sechzigtausend Mann starke Armee selbst, genauer, die Eigendynamik ihrer Bewegung, die Tod und Elend bringt und gleichzeitig Bedeutung stiftet, in dem sie „jedes Feld, jeden Sumpf, jeden Fluss und jede Straße in etwas verwandelte, dem moralisches Gewicht zukam“, wie Sherman sinniert, als er sich nach der Kapitulation des Südens noch einmal in einen Fichtenwald zurückzieht, um ein letztes Mal „auf dem harten Boden zu schlafen“ und in einem Ritual des Übergangs Abschied vom Ausnahmeleben des Krieges zu nehmen: „Dann kannst du nach Washington reisen und dich bei der Parade zeigen.“

Doctorow erzählt aus vielen Perspektiven und wählt dabei hauptsächlich die Totale oder die Nahaufnahme. In der Totalen geht der Einzelne im Kollektiv auf, in der Nahaufnahme wird er zur Wunde. Beides wird detailliert beschrieben, sachlich, aber mit Emotion, und ohne dass Doctorow – wie etwa Ian McEwan in „Abbitte“ – in Schlachtgetümmel schwelgen würde. Seine Kunst besteht darin, nichts ausufern zu lassen. Bei aller epischen Gefechts- und Operationsbeschreibung hält Doctorow die Zügel des Erzählens so kurz, dass der Sog und die vorwärtstreibende Spannung nie nachlassen. Großartig, wie er aus diesem Strom einzelne Köpfe auftauchen lässt, die prustend Atem schöpfen, gegen andere stoßen, in die nächste Szene verwickelt werden, um dann für fünfzig Seiten wieder unterzutauchen.

Das Buch endet nicht nur mit einem Friedensschluss und einer trügerischen Ruhe nach dem Sturm, in der ehemals verfeindete Soldaten „von den ausgestandenen Schlachten redeten, wie von etwas, das sie gemeinsam erlebt hatten“. Es endet auch mit dem Tod Präsident Lincolns, der in einem Theater in Washington von einem Südstaatenfanatiker erschossen wird – und es endet mit einem erzählerischen Coup Doctorows. Auf Hunderten von Seiten hat er Schlachten, Leichen, Schwerverletzte und Amputierte beschrieben. Doch jetzt, beim Sterben des Repräsentanten, senkt der Autor den Blick – und gibt damit auch dem Tod der anderen Stille und Geheimnis zurück.

E. L. Doctorow: Der Marsch. Roman. Aus dem Englischen von Angela Praesent. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 411 Seiten, 22,90 €.

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