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Essay: Splitter im Herz

Roger Willemsen und seine Kurzprosa "Der Knacks": Das Phänomen entdeckt der Autor überall, in Großstädten und Museen oder auch beim Nachdenken über Tschernobyl.

Für Schopenhauer war der Mensch nicht mehr als ein Maulwurf. Sein Leben lang gräbt er sich blind durch die Finsternis, und wozu? Für „Futter und Begattung: also nur die Mittel, dieselbe traurige Bahn fortzusetzen“. Was im 19. Jahrhundert wohlige Schauer hervorrief, scheint heute fröhliche Urständ zu feiern – angetrieben von weltweiten Finanzkrisen und diffusen Untergangsängsten.

Schopenhauer heißt heute Willemsen, sein philosophisches Hauptwerk nicht „Die Welt als Wille und Vorstellung“, sondern „Der Knacks“. Wer glaubt, so ein Buch könne nur ironisch gemeint sein, irrt: Zwar behandelt Willemsen in seinem literarischen Essay unter anderem auch die Ironie, geschrieben aber ist sein Werk mit geradezu existenzialistischem Ernst.

Wie bekommt man also einen Knacks? Bei Roger Willemsen war es der Krebstod des Vaters, den er als Kind miterlebt hat. Trotzdem ist für ihn der Knacks nicht die Folge eines einzelnen, schrecklichen Ereignisses. Vielmehr ähnelt er einem Ermüdungsbruch, der jeden von uns irgendwann ereilt. Und ist ein Leben erst mal angeknackst, ändert sich alles. Zuerst die Wahrnehmung. Plötzlich erscheinen selbst Farben wie ausgebleicht: „Der Knacks (...) ist nicht ein Riss mit Diesseits und Jenseits, Vorher und Nachher, er ist unmerklich, er teilt nicht, er prägt.“

Traumatische Ereignisse, so Willemsen, lassen sich mit Narben vergleichen, der Knacks dagegen mit Falten. Diese sind keine Verletzung der Oberfläche, sondern kommen von innen, zeigen das Altern eines Menschen, die Arbeit der Zeit, die Verwandlung von Zuversicht und Lebensmut in Schwermut und Resignation. Weshalb sich der Eindruck aufdrängt, beim Knacks handele es sich um die gute alte Midlife-Crisis – wären nach Willemsen nicht bereits Kinder vom Knacks bedroht. Sein Adressat ist der „innere“, der „fragmentarische“ Mensch; nicht das souveräne Subjekt, das sich einbildet, Herr seiner Entscheidungen zu sein.

Das Phänomen Knacks entdeckt Willemsen überall: in Großstädten und Museen, beim Nachdenken über Tschernobyl und 9/11, sogar beim Anschauen von Fußballspielen und Pornos. Vor allem aber auf Bahnhöfen, in Taxis oder auf Flughäfen erkennt der Vielgereiste Spuren des beschädigten Lebens, erblickt er vom Knacks gezeichnete Gesichter, Liebespaare oder Werke der Kunst. Gewährsleute findet er in der Literatur: F. Scott Fitzgerald, Joseph Conrad oder Joseph Roth liefern ihm Stichworte, Beispiele. „Kaum beginne ich zu reden, mischt der Knacks sich ein. (...) Der Knacks wirft sein Licht über die Rede wie ein Stroboskop: er ist nicht das Licht, er ist das Prinzip seiner Brechung, und in ihm splittert alles.“

Nur folgerichtig, dass Willemsens Essay gar nicht erst versucht, eine systematische Abhandlung zu sein. „Der Knacks“ ist eine Sammlung von Aphorismen und Reflexionen, literarischen Kurzprosastücken, Alltagsszenen und Dialogen. Eine deprimierende Lektüre, die manch Beeindruckendes zu Tage fördert: luzide Beobachtungen über feine Beziehungshaarrisse etwa. Oder großartige Reflexionen über die Zurschaustellung von Intimität im öffentlichen Raum. Aber auch Banales, bekannte Topoi der Kulturkritik in neuer, bedeutungsschwangerer Form. Willemsens Sprache, der Abstraktionsgrad mancher Passagen, hat oft etwas narzisstisch Intellektuelles, eine in die eigene Formulierungskunst verliebte Scheinschärfe – der Knacks scheint hier einem Schöngeist vor allem als Mittel zum Zweck zu dienen.

Roger Willemsen: Der Knacks. S.Fischer, Frankfurt/Main 2008. 224 S., 18,80 €.

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