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Frankfurter Buchmesse: Chinas wahre Geschichte

Liao Yiwu porträtiert in "Fräulein Hallo und der Bauernkasier" Menschen, die es in China eigentlich nicht geben dürfte, "Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft".

Liao Yiwu ist einer der Schriftsteller, an denen China seine Muskel- und Machtspiele zelebriert. In Berlin sollte er im Haus der Kulturen sprechen, in Frankfurt sein neues Buch vorstellen. Doch Ende September teilte ihm die Staatssicherheit mit, dass er China nicht verlassen dürfe. Auch Interventionen der Buchmesse und der Politik blieben erfolglos: Liao Yiwu erhielt daraufhin das offizielle Verbot, mit ausländischen Beamten zu sprechen. Ihm wurde beschieden, er sei „ein Autor mit einem speziellen Hintergrund.“ In seiner Heimat hat er seit den neunziger Jahren Publikationsverbot.

Jener spezielle Hintergrund, von dem die chinesische Staatssicherheit spricht, hat zwei Quellen. Erstens: Im Jahr 1989, kurz nach der Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens, veröffentlichte er ein Gedicht mit dem Titel „Massaker“. Daraufhin wurde er verhaftet und saß vier Jahre im Gefängnis. Nach Misshandlungen und zwei Selbstmordversuchen wurde er auf internationalen Druck hin drei Monate vor Ablauf der Haftstrafe entlassen – wegen guter Führung, so lautete die zynische offizielle Begründung.

„Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft“

Zweitens: Liao Yiwu porträtiert Menschen, die es in China eigentlich nicht geben dürfte. Über 300 Interviews hat er geführt; er ist in die Provinzen gefahren, in die Dörfer, hat mit Menschen gesprochen, die nie zuvor mit einem Journalisten geredet haben. Ihre Geschichte sei, so Liao Yiwu, „die wahre Geschichte Chinas“, unverstellt, unzensiert. Ein Mitarbeiter der Yale-Universität schmuggelte das Manuskript aus dem Land, in Thailand erschien es erstmals ungekürzt. „Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft“, lautet der Originaltitel; der S. Fischer Verlag hat nun 29 dieser Gespräche übersetzen lassen und veröffentlicht.

Eine merkwürdige Stimmung herrscht in diesem Buch; ein Flackern zwischen einer uns unverständlichen Archaik, die immer noch Grundlage des ländlichen Lebens in China zu sein scheint, und dem Fortschrittswillen und Zukunftsglauben des offiziellen Chinas. Zwischen dem alten, traditionellen China, das etwa der 103 Jahre alte Mönch Deng Kuan noch kennt, und der Gegenwart liegen der Große Sprung, die Hungersnot, die Kulturrevolution. Der Mönch berichtet von Misshandlungen: „Die Kleider wurden einem vom Leib gerissen, und mit auf den Rücken gefesselten Händen wurde man aufgehängt. Das hielt man zehn Minuten durch, dann fiel man in Ohnmacht.“

Es vermischen sich Aberglaube, Tradition und Resignation

Eine der irritierendsten, eindrücklichsten Geschichten ist die von Zhang Zhi’en, dessen Frau bei lebendigem Leib verbrannt wurde, weil der Verdacht auf Lepra bestand. Wann das war, weiß er nicht mehr, so um 1995. Er habe einmal, so sagt er, eine Natter erschlagen, seitdem sei er vom Pech verfolgt. Es verstoße, wirft Liao Yiwu ein, gegen das Gesetz, einen Menschen lebendig zu verbrennen. Ob er, Zhang Zhi’en, niemals daran gedacht habe, Anzeige zu erstatten? „Nein, sie haben es doch nur gut mit mir gemeint“, lautet die Antwort. So vermischen sich Aberglaube, Tradition und Resignation.

Auf eine hoffnungslose Weise traurig verläuft das Gespräch mit Wu Dingfu, dessen Sohn auf dem Tiananmen ermordet wurde. Die Eltern, stolz darauf, dass ihr Sohn es auf die Universität nach Peking geschafft hatte, waren in ihrer 2000 Kilometer entfernten Provinz von den Nachrichten abgeschnitten – was die ganze Welt erschütterte, erfuhren sie erst Tage später per Telegramm. „Ich hatte das Gefühl“, sagt Wu Dingfu, „dass er sich mit einer autoritären Regierung nicht einlassen dürfe. Meine Generation hat das alles mitgemacht, den Hunger, die Säuberungen, die Kulturrevolution, wir haben zu viel gesehen.“ All das aufgeschrieben zu haben, was Menschen gesehen haben und sonst nicht erzählen können oder dürfen, ist Liao Yiwus Verdienst. Diese Gespräche sind jedoch auch einer starken literarischen Bearbeitung unterzogen worden – sie sind nicht nur niederschmetternd, sondern auch ironisch zugespitzt und besitzen durchaus Unterhaltungswert. Lia Yiwu hat die Erzählform der Oral History glänzend genutzt. Eine Stimme wie ihn könnte man während der Messetage gut gebrauchen.

- Liao Yiwu: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder. S. Fischer, Ffm. 2009, 540 S., 22,95 €.

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