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Frankfurter Buchmesse: Der Gelbe Fluss fließt noch mit aller Macht

Mark Leonard verdient Lob: Mit dem Buch "Was denkt China?" ist er der Erste, der die ideologischen Strömungen in China zusammenfasst, und das auch noch sachlich und gut lesbar.

Als Mark Leonard das erste Mal die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) besuchte, war er schwer beeindruckt, oder eher ein wenig eingeschüchtert. Der junge Engländer, ein akademischer Überflieger, war nach Peking gekommen als Repräsentant des von Tony Blair begründeten „Foreign Policy Centre“, einer renommierten Denkfabrik. „Wir haben etwa 20 Mitarbeiter und publizieren pro Jahr 25 politische Studien“, stellte er sich vor. Sein chinesisches Gegenüber nickte höflich, lächelte und sagte dann: „Wir haben 50 Forschungszentren, die 260 Disziplinen und Subdisziplinen abdecken, und 4000 hauptberufliche Forscher.“

Leonard stellt die CASS-Anekdote mit gutem Grund an den Anfang seines Buches „Was denkt China?“. Vermittelt sie doch einen aufschlussreichen Eindruck – von westlicher Ignoranz und von einer Seite Chinas, die hierzulande kaum wahrgenommen wird: seinem Geistesleben.

Erst kürzlich zeigte sich Wang Hui, der wichtigste chinesische Philosoph der Gegenwart, enttäuscht von den internationalen Kollegen, die ihn in Peking besucht haben. Egal ob Jürgen Habermas, Jacques Derrida oder Peter Sloterdijk – sie alle seien nur gekommen, um ihre Lehren zu verbreiten. Daran, etwas in China zu lernen, seien sie kaum interessiert gewesen. Auch wenn in den deutschen Medien über die Volksrepublik berichtet wird, geht es fast ausschließlich um den ökonomische Boom oder um Menschenrechtsverletzungen, mithin um die Frage: Was denken wir über China?

Die Kommunistische Partei erscheint dabei als ideologischer Monolith und China als Staat, der entweder der gegenwärtigen Tyrannei verhaftet bleiben oder sich gänzlich dem Westen anpassen wird. Ein Irrtum, denn längst finden innerhalb des Systems Debatten über Chinas Zukunft statt, die in eine andere Richtung deuten.

Ein Buch wie „Was denkt China?“ war insofern überfällig – und sein Autor verdient Lob, weil er nicht nur der Erste ist, der die wichtigsten ideologischen Strömungen in der Volksrepublik nach 1989 kompakt und übersichtlich zusammengefasst hat, sondern auch, weil sein Buch sachlich und gut lesbar ist.

Leonard, bekannt geworden durch seinen Essay „Warum Europa die Zukunft gehört“ und derzeit Direktor des „European Council on Foreign Relations“, bezeichnet sich als „Zufallssinologen“. Und genau darin liegt seine Stärke. Selbst Leser, die wenig über China wissen, werden sein Buch problemlos verstehen. Der 35-Jährige verzichtet ebenso auf langatmige Ausflüge in die chinesische Geschichte wie auf althergebrachte westliche Interpretationsmodelle für China. Er wertet nicht, stellt stattdessen nur dar, was er in Gesprächen mit führenden Denkern an Universitäten und in „Think Tanks“ erfahren hat. Zunächst geht es um Innen-, dann um Außenpolitik, ehe Leonard im letzten Kapitel erörtert, ob China ein Modell für andere Entwicklungsländer sein könnte.

Eine zentrale Rolle spielt der Gegensatz zwischen der „Neuen Linken“ und der „Neuen Rechten“. Letztere war die in den vergangenen Jahrzehnten bestimmende Gruppe. Die neuen Rechten sind in der Mehrzahl Ökonomen – Wirtschaftsliberale, die glauben, dass „China erst dann richtig frei sein wird, wenn der staatliche Sektor aufgelöst und verkauft und der Staat zu einer Art Restorgan geschrumpft ist“; dann nämlich werde auch eine Zivilgesellschaft und schließlich eine Demokratie entstehen. Paradoxerweise sahen die neuen Rechten ihre Ideen weitgehend durch die KP verwirklicht, die die Privatisierung und den Umbau der Gesellschaft so radikal vorantrieb, wie es wohl nur in einer Diktatur möglich ist.

Die neuen Linken mit ihrem wichtigsten Vertreter Wang Hui betonen dagegen den Preis, den China für den Aufschwung zu zahlen hat: Umweltverschmutzung, Korruption – und vor allem die wachsende soziale Ungleichheit. Anders als die „alte“ lehnt die neue Linke marktwirtschaftliche Reformen nicht ab, ist aber auf der Suche nach Möglichkeiten, den Reichtum gerechter zu verteilen – und glaubt, dass eine bloße Übernahme westlicher Vorbilder, etwa des deutschen Sozialstaatsmodells, für China nicht taugt.

Mit Hu Jintao, der seit 2002 Generalsekretär der Kommunistischen Partei und seit 2003 Staatspräsident ist, haben die neuen Linken an Einfluss gewonnen. Viele ihrer Ideen finden sich im Ziel der „harmonischen Gesellschaft“ wieder, das Hu ausgegeben hat. Laut Leonard ist in den vergangenen Jahren, im Widerstreit der verschiedenen Denkschulen, ein eigenes chinesisches Globalisierungsmodell entstanden.

Dieses Modell beruht auf drei Säulen: der „umfassenden nationalen Macht“ (die die Souveränität der Länder betont), dem „Gelber-Fluss-Kapitalismus“ (in dem der Staat eine starke Position behält) und der „deliberativen Diktatur“ (die in begrenztem Maß Mitbestimmung, aber keine freien nationalen Wahlen erlaubt).

Der Erfolg Chinas, seine Stabilität und das Versprechen, die Kontrolle über das eigene Land nicht an Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds abgeben zu müssen, könnten das chinesische Modell für viele Staaten attraktiv machen, so Leonard. Zumal China daran arbeitet, seinen Einfluss zu mehren, zum Beispiel in Afrika und Lateinamerika – und sich dabei natürlich nicht an Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Ländern stört.

China hat sich in den vergangenen 30 Jahren stark gewandelt, auch politisch und durchaus zum Besseren. Aber eben nicht in Richtung einer westlichen Demokratie, sondern hin zu einer „flexibleren Form des Autoritarismus“. Ob dieser Autoritarismus tatsächlich attraktiv genug ist, um international zum Vorbild zu werden, ist zweifelhaft. Auf jeden Fall, glaubt Mark Leonard, fordert Chinas Modell den Westen heraus.

- Mark Leonard: Was denkt China? Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. dtv, München 2009. 200 Seiten, 14,90 €.

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