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Frauen und Männer: Gib alles!

Wer selbstlos handelt, kann dabei genauso viel Spaß haben wie beim Sex oder einer Tafel Schokolade. Warum Altruisten erfolgreicher sind als Egoisten

Wie gute Freunde, so können uns Texte Jahrzehnte lang begleiten, sogar faszinieren, ohne dass wir sie wirklich verstehen. Mir ging das so mit den folgenden Zeilen: „An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk / Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack / Mitfühlend sehe ich / Die geschwollenen Stirnadern, andeutend / Wie anstrengend es ist, böse zu sein.“ Sie stammen von Bertolt Brecht und stehen unter dem Titel „Die Maske des Bösen“ (diese hängt bis heute in Brechts letzter Wohnung in der Berliner Chausseestraße).

Ich begegnete dem kurzen Gedicht mit 17 Jahren, als ich – wie so viele Heranwachsende – sehr böse auf die Welt und voll Sehnsucht nach einer besseren war. Natürlich leuchtete mir der vordergründige Sinn ein; wie viel Kraft es kostet zu hadern, spürte ich ja selbst zur Genüge. Welch eine Energieverschwendung der Zorn sein kann! Schlimmer noch als das unangenehme Gefühl an sich ist, dass es uns von anderen trennt. Wut ist ein Gefängnis. Jede ihrer Zielscheiben ist ein Mensch weniger, mit dem wir gemeinsame Sache machen können.

Aber „böse“ bezeichnet nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein moralisches Urteil. Fast sicher hatte Brecht diese Bedeutung gemeint: „Die Maske des Bösen“ entstand im September 1942, als die Nazitruppen Europa terrorisierten. Diese Lesart jedoch irritiert: Kann es sein, dass Menschen, die andere ausnutzen, verletzen, sogar umbringen und einen Vorteil daraus ziehen, selbst unter ihrem Tun leiden? Verdienen am Ende gar Himmler und Hitler unser Bedauern?

Der Gedanke lässt sich allerdings umkehren, wie ich viel später begriff: Wenn wir frei von Bosheit bleiben und uns fair und großzügig zeigen, so tun wir es möglicherweise nicht nur aus Angst vor Strafen und weil es uns die Erziehung so eingebläut hat. Menschlichkeit im Umgang mit anderen könnte uns vielmehr selbst nutzen, weil sie das eigene Wohlbefinden erhöht. Die uralte Frage, ob man sich um andere oder lieber um das eigene Glück kümmern soll, fände dann von selbst ihre Antwort: Um beides – weil es das eine ohne das andere nicht gibt.

Tatsächlich weisen empirische Untersuchungen in genau diese Richtung: Menschen, die sich für andere einsetzen, sind in aller Regel zufriedener, oft erfolgreicher und sogar gesünder als solche, die nur an ihr eigenes Wohl denken. Sie leben sogar länger, wie medizinische Studien nachweisen konnten.

Der Alltagsverstand lässt uns das genaue Gegenteil erwarten. Wer etwas hergibt, hat hinterher weniger; wer dagegen seine Zeit, seine Kraft oder auch sein Geld für die eigenen Ziele einsetzt, ist auf den ersten Blick im Vorteil. Schon ein Blick auf die Natur scheint nahezulegen, die eigenen Güter zusammenzuhalten: Denn Menschen wie Tiere ringen um knappe Ressourcen. Wer hat, setzt sich durch, wer nicht hat, geht unter.

Allerdings verläuft unser Zusammenleben nach sehr viel komplizierteren Regeln als denen des Dschungels. Neue Ergebnisse der Evolutionstheorie säen denn auch Zweifel, ob der gesunde Menschenverstand bei seiner Verteidigung des Eigennutzes weit genug blickt. Sehr oft nämlich scheiden Egoisten nur kurzfristig besser ab, auf Dauer dagegen kommen Menschen weiter, die sich auch für das Wohl anderer einsetzten.

Wenn erfolgreicher ist, wer sich für seine Mitmenschen einsetzt, würde die Evolution solches Verhalten befördern. Damit steht eine faszinierende Hypothese im Raum: Ist es uns angeboren, für andere zu sorgen? Gibt es Gene für Altruismus?

Dass die Welt von Egoisten nur so wimmelt, spricht nicht dagegen. Denn sicher sind Menschen nicht nur darauf programmiert, selbstlos zu sein. Möglicherweise sind unsere Anlagen, erst auf den eigenen Vorteil zu achten, sogar stärker. Nur ist die Frage, ob ein gewisses Maß an Egoismus nun einmal zum menschlichen Wesen gehört, vergleichsweise uninteressant. Viel mehr kommt es darauf an, ob wir darüber hinaus noch andere und weniger sattsam bekannte Regungen haben.

Dabei hat die Natur ein raffiniertes Mittel erfunden, mit dem sie uns dazu bringt, was sie von uns will – sie verführt uns mit guten Gefühlen. Sex ist aufregend und angenehm, denn er dient der Vermehrung. Wirkungsvoller, als vielen lieb ist, sind auch die Lustgefühle beim Essen, damit wir Fettpolster für schwere Zeiten anlegen. Auf ganz ähnliche Weise werden wir für Fairness und Hilfsbereitschaft belohnt: Es fühlt sich gut an, großherzig zu sein. Wie die Hirnforschung nachwies, aktiviert Altruismus im Kopf dieselben Schaltungen wie der Genuss einer Tafel Schokolade oder auch Sex.

„Wie traurig es ist, ein Egoist zu sein“, möchte man in Anlehnung an Bertolt Brecht voll Mitgefühl feststellen – und wie gefährlich. Gar nicht so sehr für die Mitmenschen, denn zumindest entwickelte Gesellschaften halten allzu wilden Egoismus mit Gesetzen und Gerichten im Zaum.

Doch wer schützt die Egoisten vor sich selbst? Schwere Depressionen verbreiten sich in Deutschland wie in den meisten Ländern in furchterregendem Tempo. In zehn Jahren werden Depressionen laut der Weltgesundheitsorganisation bei Frauen die verheerendste aller Krankheiten sein, bei Männern werden nur Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch mehr Schaden anrichten. Viele Fachleute erklären diese erschreckenden Zahlen damit, dass Bindungen an die Familie, an Freunde und Kollegen sich aufgelöst haben, und dass in der heutigen Gesellschaft vor allem das Individuum zählt. Sicher ist, dass Einsatz für andere der krankhaften Traurigkeit vorbeugen kann.

Obendrein haben Altruisten häufig mehr Lebenserfolg als Menschen, die strikt auf den eigenen Vorteil achten. Der Lösung des Rätsels, warum es so ist, sind die Neurowissenschaften in den vergangenen Jahren ein bedeutendes Stück näher gekommen. Entdeckt wurde ein Hirnsystem der Empathie, das ganz anders funktioniert als das gewohnte strategische Denken.

Wenn wir andere Menschen in Freude oder Schmerz erleben, spiegeln wir ihre Gefühle in unserem eigenen Kopf wider. Als löste sich die Grenze zwischen „dir“ und „mir“ auf, schwingen dann beide Gehirne im Gleichtakt. Ähnliche Mechanismen sorgen dafür, dass Vertrauen und gegenseitiges Verständnis entstehen, von dem letztlich alle Beteiligten profitieren.

Was hindert uns eigentlich daran, zu unserem eigenen Besten mehr für andere zu sorgen? Wer es versucht, stellt fest, wie tief wir dem eigenen Wunsch, großzügig zu sein, misstrauen. Zwar spüren wir oft den Impuls, etwas für andere zu tun, aber unterdrücken ihn. Denn Altruismus ist fast immer riskanter, als nur auf die eigene Rechnung zu handeln.

Da ist zum einen die Angst, uns lächerlich zu machen. Großherzigkeit genießt in unserer Gesellschaft einen seltsamen Ruf: Öffentlich lobt jeder selbstlose Menschen, doch hinter vorgehaltener Hand gedeiht der Zynismus. Bewunderung genießt, wer cool und durchsetzungsstark wirkt. Mitgefühl hingegen gilt als ein Zeichen von Schwäche. Man zweifelt am Verstand derer, die ihre Interessen bisweilen zurückstellen; allzu oft fällt der Begriff des naiven „Gutmenschen“. So sind wir in Sachen Selbstlosigkeit rettungslos ambivalent: Wir wollen daran glauben, können es aber nicht, und wenn wir es könnten, würden wir es nicht zugeben. Nur auf einen Gedanken scheint niemand zu kommen: Dass die Bereitschaft zur Hingabe auf die Stärke eines Menschen hindeuten könnte.

Noch tiefer als die Furcht vor Spott sitzt die Angst, ausgenutzt zu werden. Sie plagt uns völlig zu Recht. Denn solange Menschen ihren eigenen Vorteil anstreben, werden Einzelne von der Gutwilligkeit der anderen profitieren wollen. Und die Verlockung, Trittbrett zu fahren, ist umso stärker, je größer die Gemeinschaft. Ein Ehepartner, der seinen Aufgaben im Haushalt nicht nachkommt, bekommt schnell die schlechte Laune seines oder seiner Angetrauten als Quittung; viel leichter fällt es, sich vor Elternpflichten bei der Organisation eines Festes in der Tagesstätte seiner Kinder zu drücken.

Trittbrettfahrer allerdings sprengen auf Dauer den Zusammenhalt jeder Gemeinschaft, wie Experimente der Verhaltensforschung beweisen: Bald wollen die ersten Gruppenmitglieder keinen Parasiten mehr nähren und achten nun ihrerseits nur noch auf den eigenen Vorteil. Die Nächsten tun es ihnen schnell nach, und nach einiger Zeit stellen auch die anfangs wohlwollendsten Menschen ihre Beiträge ein.

Das erklärt, warum Gerechtigkeit eines unserer stärksten Bedürfnisse ist. Überall, wo Menschen aufeinander angewiesen sind, ist das Verlangen nach ihr lebensnotwendig. Denn eine Gemeinschaft, die keinen fairen Umgang unter ihren Mitgliedern durchsetzt, geht über kurz oder lang unter. Gerechtigkeit ermöglicht erst Altruismus, doch der Hunger nach ihr beschert uns Rache und Neid.

Und diese sind noch nicht einmal die dunkelsten Seiten der Selbstlosigkeit: Jede Gruppe hält umso besser zusammen, je stärker sie im Wettbewerb mit anderen Gemeinschaften steht. Deshalb sind Abgrenzung und Hass auf „die Anderen“ die düsteren Schwestern des Altruismus. Ihren Anlagen, für andere zu sorgen, verdanken Menschen also nicht nur ihre edelsten, sondern auch einige ihrer hässlichsten Züge. So bestätigt die moderne Forschung einen Zusammenhang, von dem Mythen zu allen Zeiten erzählten – beginnend mit Luzifer, dem gefallenen Engel, bis hin zu Darth Vader, der sich im Hollywoodepos „Star Wars" von der Lichtgestalt in einen finsteren Tyrannen verwandelt.

Können wir die guten Seiten des Altruismus ohne die schlechten ausleben? Nicht nur das Wohlergehen jedes Einzelnen hängt davon ab, sondern auch die Zukunft der Menschheit. Erst wenn Unternehmen, Völker und Nationen lernen, das Wohl aller den Interessen der eigenen Gemeinschaft wenigstens gleichzustellen, wird es gelingen, die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zu schützen.

Stefan Klein ist Wissenschaftsjournalist und Autor des Bestsellers „Die Glücksformel“. Sein neues Buch heißt „Der Sinn des Gebens: Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiter kommen“ (Fischer Verlag).

Stefan Klein

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