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Literatur: Heult mir die Wolga

Martin Amis gibt in „Haus der Begegnungen“ die große Gulag-Horror-Show

Das Lager hat sie auseinandergerissen, das Lager führt sie wieder zusammen. Zwei Brüder, zwei ungleiche, deren Lebenswege sich nach mehrjähriger Trennung im sibirischen Horror des Gulag kreuzen. Weshalb man ihn verhaftet habe, will der namenlose Erzähler von seinem Bruder wissen. Weil er vom „amerikanischen Kontinent“ geschwärmt habe, antwortet Lew lakonisch. Bitteres Lachen eint die Gestrandeten. „Amerikanischer Kontinent“, diese Chiffre hatten sich die Brüder einst für Zoya ausgedacht, das Mädchen mit den kontinentalen Rundungen und der Panama-Taille, das der eine begehrte und der andere bekam.

Sex und Blut und Permafrost, das sind die Zutaten zu Martin Amis’ Gulag-Roman „Haus der Begegnungen“. Der britische Schriftsteller war noch nie zimperlich, wenn es darum ging, Geschmacklosigkeiten aufzutürmen, um Fallhöhe für seine Pointen zu gewinnen. In einem Roman über die wohl dunkelste Periode der russischen Geschichte funktioniert diese Kompositionsmethode naturgemäß gut: Da heißt es an einer Stelle etwa über die desaströsen Hungersnöte der vierziger Jahre, „dass auch Frauen, und selbst in ihren intimsten Verrichtungen, sich von der sozioökonomischen Realität nicht freimachen konnten. In den Nachkriegsjahren gab es in der Sowjetunion keine, die nicht schluckte. Keine.“

Jenseits dieses stilistischen Brachialparcours’ ist es Amis in „Haus der Begegnungen“ jedoch sehr ausdrücklich um ernste, um letzte, wenn nicht allerletzte Dinge zu tun. Die Auseinandersetzung mit Stalin und seinem gesellschaftsdeformierenden Furor, die der Schriftsteller mit seinem essayistischen Buch „Koba der Schreckliche“ begann, findet hier ihre romanhafte Fortschreibung – oder muss man sagen, ihr fiktionalisiertes Abfallprodukt?

„Mehrere Regalmeter russische Geschichte“ hatte Amis nach eigener Auskunft für „Koba der Schreckliche“ gelesen. Als Recherchegrundlage für zwei Bücher mag das reichen, doch leider wirkt „Haus der Begegnungen“ in vielerlei Hinsicht wie der ornamentale Putz eines zuvor errichteten Thesengebäudes. Ein namenloser russischer Protagonist reist im Jahre 2004 zurück an die Stätte seiner einstigen Demütigung – und dekliniert in einem langen, reflektierenden Brief an seine Tochter durch, was Amis schon in seiner essayistischen Auseinandersetzung mit Stalin als charakteristischstes Merkmal dessen Wirkens herausgearbeitet hatte: die völlige moralische Entgrenzung einer Gesellschaft – und das daraus resultierende Unvermögen, Stalins Gräuel als Gräuel zu benennen. „Irgend jemand soll mir sagen, dass es ihm leid tut“, lässt Amis seinen Erzähler sagen. „Los doch. Heult mir die Wolga, heult mir den Jenissej, heult mir die Moskwa.“

Erneut stellt Amis auch den Untaten des „großen Schnurrbarts“ (Stalin) diejenigen des „kleinen“ (Hitler) gegenüber: „Sie waren viel schrecklicher als wir“, lässt er seinen Protagonisten über die Nazis sagen. „Trotzdem: Sie haben sich erholt, und wir nicht. Deutschland welkt nicht dahin wie Russland. ... Im Jahre 2004 wiegt das deutsche Verbrechen ein ganz klein bisschen weniger als früher. Das russische Verbrechen ist im Jahre 2004 immer noch dasselbe Verbrechen.“

Warum Deutschland die inhumanen Exzesse der Weltkriegsära hinter sich lassen konnte, während Russland weiter an ihren Folgen kranke, fragt Amis suggestiv. Die Antwort formuliert er nicht aus, wenngleich das Buch sie durchaus hergäbe: In Russland fehlte auch vor Stalin jede demokratische Tradition, zudem dauerte das sowjetische Experiment nicht zwölf, sondern generationenverschlingende 70 Jahre. An einer historisch substanziierten Antwort aber wirkt Amis auch gar nicht interessiert; lieber suggeriert er einen slawischen Hang zur Selbstzerstörung, eine gewissermaßen rassisch begründete Unfähigkeit, sich über die eigene Geschichte zu erheben. Lew, der gewaltverabscheuende Intellektuelle, muss zugrunde gehen. Sein Bruder, der moralisch verkrüppelte Vergewaltiger, wird immer wieder nach oben gespült. Russland frisst sich selbst. Bis heute. Und Amis gibt den fassungslosen Betrachter.

Moralische Bestürzung auf der einen, ästhetischer Nihilismus auf der anderen Seite – das will in dieser großen Gulag-Horror-Show nicht aufgehen.

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