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Muschg

© Mike Wolff

Roman: Höllenfahrt mit Dame

Adolf Muschgs Roman "Die Kinderhochzeit" erzählt eine dämonische Liebesgeschichte. Jede Figur scheint von bösen Geheimnissen und Geistern umgeben zu sein.

Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, wenn sein Leben wegen eines einzigen Fotos aus den Fugen gerät? In Adolf Muschgs neuem Roman „Die Kinderhochzeit“ passiert das Klaus Marbach (den wir schon aus Muschgs Roman „Gegenzauber“ kennen). Der arbeitslose Historiker steckt in einer Krise: Der Bergier-Bericht über die Verstrickungen der schweizerischen mit der deutschen Industrie in der NS-Zeit ist beendet, und seine Frau will ihn um einer Frau willen verlassen. Das fragliche Bild wurde 1949 im badischen Nieburg aufgenommen, dem das Schweizerische gegenüberliegt (reales Vorbild ist Rheinfelden) und zeigt einen luxuriös ausgestatteten Kinderhochzeitszug.

Das blendet nicht nur die materielle Not jener Jahre aus, es vermählt auch die beiden Ortsteile in neuer Unschuld. Denn der kleine Bräutigam Iring ist der Sohn eines SS-Mannes, und die Organisatorin und Brautmutter die lasziv posierende Constanze Bühler, einzige Tochter des ortsansässigen Aluminiummagnaten, der laut Bergier-Bericht „ordentlich Dreck am Stecken“ hat. Die Frage, die einen Abgrund unter Klaus Marbachs Leben öffnet: Wo kam das Böse in Nieburg her, und wie widersteht man ihm?

Schon mit der ersten, verstörenden Begegnung scheint der Roman allerdings die Blickrichtung zu ändern – weg von den politischen, hin zu erotischen Fallstricken. In einem betörend schönen Haus im Wallis – die Beschreibungen des Interieurs sind eine von Adolf Muschgs großen Stärken – trifft er die todkranke Constanze Bühler, die sich wie eine herrschsüchtig Liebende benimmt. Spinnenartig umgarnt und lähmt die Greisin den jungen Mann, bedrängt ihn mit ihrer Körperlichkeit und überhäuft ihn beim Abschied mit kompromittierendem Material aus dem Familienarchiv. Eine großartige Szene, die sich auf Constanzes Beerdigung wiederholt: Ihre Tochter Imogen ist das Ebenbild ihrer Mutter und hat dieselbe Dominanz. Der schockierte Klaus Marbach verfällt dieser 60-Jährigen, wobei die Liebesbeziehung ebenso unheilvoll wirkt wie die ganze Familie Bühler.

Von Kapitel zu Kapitel wird die Geschichte dämonischer. Jede Figur scheint von bösen Geheimnissen und Geistern umgeben zu sein, die in den Mauern des Bühler’schen Anwesens hausen. Im Lauf der Jahre war der ganze Kinderbrautzug hier einquartiert, lauter ehrgeizige, geldhungrige Männer, die Imogen zu Füßen lagen. Adolf Muschg schildert den überirdisch schönen Park und die königlichen Räume des Hauses als beklemmend schönen, kalten Ort, an dem 2003, der erzählten Zeit des Romans, Imogen mit ihrem Gast aus den Ritualen großbürgerlichen Lebens erotische Spiele macht: Jede Teezeremonie unter den Bäumen fühlt sich an wie ein Liebesakt.

Auch wenn der alte Patriarch Bühler, wie es sein Notizbuch festhält, Hitler 1923 zum Putsch überredet hat – das Schicksal der Familie bestimmten deren eigensinnige Frauen, die sich gern mit vaterlosen Söhnen umgaben. Auch Marbach weiß nichts von seiner Herkunft – vielleicht ist er ein illegitimer Sohn Bühlers, und Imogens abwesender Gatte Iring Selber hat sich als Querdenker und Stimmenimitator selbst erschaffen. Erzählerisch sind sie parallel angelegt, ein trauriges Paradox, das der Roman noch über den letzten Umkehrpunkt hinaus offenhält: Der Forscher verbrennt alle Unterlagen, um in dieser Liebesobsession ein anderer zu werden.

Wie jemand sich zerstört, weil er meint, sich endlich gefunden zu haben, davon erzählt Adolf Muschg listig und wortgewaltig. Die unzähligen skurrilen Abschweifungen führen alle ins Zentrum des Romans: einen Hallraum irreführender Echos, in dem Gut und Böse nur noch unterschiedliche Aggregatzustände der Psyche sind. Einzige Hoffnungsfigur ist der bescheidene Bibliothekar Nicht, der die wirren Vorgänge nur verstehen will.

Keines der Rätsel im Roman wird gelöst. Polizeiberichte, angehängte Dokumente und intime Briefe verwirren alles nur noch mehr. Aber das macht nichts, denn wir lesen einen spannenden Abenteuerroman, dessen Held über bislang unentdeckte Schlachtfelder der Liebe irrt. Immer wieder erweist sie sich als Höllenmacht, und als Rettung bleibt, bei so viel Zerstörungswut, nur die Freundschaft.

Adolf Muschg: Kinderhochzeit. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008. 580 Seiten, 22,80 €.

Nicole Henneberg

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