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John Burnsides Roman „Glister“: Menschliche Makel

Zwischen Religion und Wirklichkeit: John Burnsides Roman „Glister“

Am Ende von John Burnsides neuem Roman „Glister“ müsste man sich einmal kräftig die Augen reiben und noch einmal ganz von vorne anfangen. Ob man nach einer zweiten Lektüre begriffen hätte, was man da gerade Absonderliches gelesen hat? Einen Kriminalroman? Keinesfalls, und das obwohl eine Mordserie an Jugendlichen eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Einen Umweltthriller? Erst recht nicht, obwohl das Terrain, auf dem John Burnside seinen Roman angesiedelt hat, hochgradig vergiftet ist. Eine Liebesgeschichte? Woher denn. Es wird zwar ziemlich viel gefickt (und das heißt hier auch so), aber das hat nichts zu bedeuten. Ein Bildungsroman? Ja, vielleicht. Vielleicht auch alles zusammen.

Allein schon die Erzählperspektive von „Glister“ hat etwas Irritierendes. Im Prolog spricht eine Stimme, die weit weg zu sein scheint von allem, räumlich und zeitlich (zumindest letzteres ist ein Irrtum), und die über das Verhältnis von Autor, Erzähler und Geschichte reflektiert: „Es gibt nur eine Geschichte, die immer weitergeht. Manchmal hat man etwas zu erzählen, manchmal nicht. Ich glaube, jeder, der mag, kann das Erzählen übernehmen, doch das hat nicht den geringsten Einfluss auf den Verlauf der Geschichte.“ Der ewige Fluss der Dinge wird beschworen, ein Hauch von Überzeitlichkeit liegt über allem, und das, obgleich der äußere Rahmen konkret abgesteckt wird.

Innertown heißt der Ort des Geschehens, eine kleine Stadt an der schottischen Küste, ehemals Standort einer Chemiefabrik, die den Menschen Arbeit, Auskommen und den Tod gebracht hat: Die Krebs- und Sterberate in Innertown ist überdurchschnittlich hoch, das Land rund um das mittlerweile brachliegende Fabrikgelände vergiftet; die Bewohner von Innertown sind desillusioniert und arm, während ein cleverer Geschäftsmann namens Smith (er könnte auch Müller, Meier oder am besten Teufel heißen), die Vision eines sogenannten Homeland-Projekts entworfen hat, das aus der heruntergekommenen Industrieruine Innertown einen attraktiven Lebensort machen soll.

Smith hält die Fäden in Innertown in der Hand – es gibt sonst niemanden mehr, auf den die Bewohner sonst setzen könnten. Auch der tumbe Dorfpolizist John Morrison ist zumindest psychisch von Smith abhängig. Und als er eines Nachts die Leiche eines seit Tagen vermissten Jungen im Wald findet, schweigt Morrison auf Smiths Geheiß. Der Junge wurde ermordet, nicht nur das: „Auf den ersten Blick war offensichtlich, dass man den Jungen brutal misshandelt und so absichtlich wie systematisch verletzt hatte, und zwar auf eine Art, die an Folter grenzte.“ Mark Wilkinson heißt das Opfer; es wird weitere geben; Teenager, die spurlos verschwinden, ohne dass in Innertown Unruhe ausbräche. Sie seien wohl fortgegangen, lügt man sich vor. Ein Dorf im Zustand der Apathie. Doch ohnehin lenkt John Burnside seinen Roman schon sehr rasch auf Pfade abseits der trivialen Verbrechensaufklärung. Die interessiert einen so abgründigen Erzähler wie ihn noch nicht einmal am Rande. Beim Blick in Mark Wilkinsons Gesicht erkennt der Polizist, „dass die Qual des Jungen für den Mörder eine religiöse, gar mystische Bedeutung gehabt haben musste“.

Rund drei Viertel des Romans sind aus der Perspektive des fünfzehnjährigen Leonard erzählt, dessen bester Freund Liam ebenfalls verschwunden ist. Leonard hat einen messerscharfen Verstand; er schlingt die Weltliteratur in sich hinein, durchstreift die vergifteten Areale rund um die alte Fabrik, trifft dort auf eine Gang von Jugendlichen, von deren Brutalität er sich mitreißen lässt, obwohl er stets meilenweit über allem zu stehen scheint. Leonard ist in und außerhalb der Geschichte, es ist ein irrlichterndes Flackern, das diese Figur antreibt; eine Mischung aus Arroganz, Weisheit und Todesverachtung.

Alles läuft auf einen Endkampf hinaus, nicht in einem handfesten Sinne. Die Hölle auf der einen Seite und Grausamkeit als eine menschliche, nicht göttliche Eigenschaft, werden von John Burnside gegeneinander in Stellung gebracht. Dazwischen liegt die Sünde der Unterlassung, derer sich die Bewohner von Innertown schuldig gemacht haben.

John Burnside hat eine Sprache gefunden, die den Zusammenhang von Schuld, Sühne und Bestrafung in einen Zwischenraum von Religion und Realität stellt. Nichts raunend Orakelhaftes hat sein Text, aber auch nichts demonstrativ Schockierendes. „Glister“ zielt über die Zeit, über die Gegenwart hinaus. Und trifft mitten in die Verfasstheit des Menschen.

John Burnside:

Glister. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus, München 2009. 286 S., 19,95 €.

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