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Vogelschwarm

© pa/dpa

''Kaltenburg'': Vögel fliehen den Rauch

Mit Konrad Lorenz unterwegs in den Abgründen deutscher Geschichte: Marcel Beyer und sein Roman "Kaltenburg“ verdichten essentielle Fragen zu poetischen Denkbildern.

Die Spannung, der er sich als Autor ausgesetzt sehe, hat Marcel Beyer einmal mit zwei Sätzen beschrieben. „Schweigen ist unmöglich“, lautet der erste, und der zweite: „Die guten Menschen sollen das Maul halten.“ Fraglos eine politische Poetik. Denn der Satz von der Unmöglichkeit zu schweigen bezieht sich auf nichts weniger als die Menschheitsverbrechen im 20. Jahrhundert und die Verpflichtung zur Erinnerung. In diesem Zusammenhang sieht Beyer seine Arbeit spätestens seit seinem literarischen Durchbruch „Flughunde“ (1995) über Goebbels’ Toningenieur, und er bleibt bestimmend bis zum neuen Roman.

Wohlfeiles Werten oder moralisches Besserwissen sind ihm dabei fremd. Beyer will nicht tönen, ihm geht es um den Ton. Sein Schreiben besteht nicht aus Posen, sondern es formuliert eine Haltung – zur deutschen Geschichte, aus der Perspektive der Gegenwart und mit den Mitteln der Literatur.

Damit setzt Beyer sich an den Tisch mit den ganz Großen: Heinrich Böll (den nach ihm benannten Preis erhielt er 2001), Günter Grass, Christa Wolf, Walter Kempowski oder Uwe Johnson: Von ihm lieh er die beiden eingangs zitierten Sätze. Große Namen prägen auch den neuen Roman „Kaltenburg“. Die Konturen des Künstlers Joseph Beuys, des Tierfilmers Heinz Sielmann und des Verhaltensforschers Konrad Lorenz sind deutlich erkennbar. 1942 trafen die drei in Posen aufeinander. Eine rätselhafte Konstellation, der Beyer bereits in seinem großartigen Gedichtband „Erdkunde“ (2002) einen Zyklus widmete, wobei von „Erbgeschichten“ und „Veteranenschäden“ die Rede war.

Um beschädigte Überlieferung geht es auch in „Kaltenburg“. Dresden um die Jahrtausendwende. Hermann Funk, ein pensionierter Ornithologe, erzählt einer jungen Dolmetscherin aus seinem Leben. Vor allem von Kaltenburg, dem (siehe Lorenz) berühmten österreichischen Zoologen, der für ihn eine Art Ziehvater war. Die erste Begegnung findet Anfang der 1940er Jahre in Posen statt, als der Erzähler noch ein Kind war und Kaltenburg ein Freund der Eltern. Die verlor Funk in der Bombennacht von Dresden, wohin die Familie Anfang 1945 geflohen war. Nach dem Krieg baut Kaltenburg (anders als Lorenz) ein großes Forschungsinstitut am Elbhang auf und nimmt den Waisen unter seine Fittiche. Erschöpft verlässt der renommierte Forscher wenige Jahre nach dem Mauerbau die DDR und geht nach Wien zurück. Funk, mittlerweile verheiratet, bleibt in Dresden.

Ob Kaltenburg nur keine Forschungsperspektive mehr sah in der sich abschottenden DDR oder doch erpresst wurde, bleibt unklar. Unaufgeklärt bleibt auch, was der ehrgeizige Wissenschaftler, der mit Vergleichen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten provozierte, während seiner Tätigkeit im Posener Lazarett genau gemacht hat.

Wo liegt die Wahrheit? Wie begründen sich Verantwortung und Schuld? Welche Vorstellungen konstruieren wir von der Vergangenheit? Wie kaum ein Autor verdichtet Beyer diese Fragen zu poetischen Denkbildern über das Erinnern selbst. Vorzugsweise am Motiv der Vögel. Etwa wenn Ludwig Kaltenburg von den Kamindohlen erzählt, die sich in den dunklen Schlot stürzen, taumelnd die Flügel spreizen und so zu ihrem Nest finden. Was zunächst hilflos aussehe, zeuge „von überlegtem Vorgehen und äußerster Geschicklichkeit“. Vögel, heißt es, „fliehen den Rauch“, darum waren um die NS-Vernichtungslager keine zu finden. Was weiß Kaltenburg, Autor des Buches „Urformen der Angst“, was verschweigt er?

Es gibt eine Reihe weiterer Motive, welche die Episoden und Erzählstränge miteinander verknüpfen. Schuh, Mantel, Haube etwa, und nicht zuletzt der Handschuh. Ein Kleidungsstück, das die Hand schmückt, schützt und armiert, den Geruch der Haut ebenso verbirgt wie den Fingerabdruck, die individuelle Erkennbarkeit. Man kann ihn nach innen und außen stülpen wie einen Vogelbalg beim Präparieren. Der Handschuhträger Kaltenburg erscheint dem Erzähler bei der ersten Begegnung in der „Haltung eines Falkners“. Macht, Dominanz, Erinnerung.

Das Vermögen, alltägliche Wörter zu poetisch komplexen Bildern und Bedeutungswelten zu entfalten, zeichnet Marcel Beyers Schreiben seit jeher aus. Aus diesem Grund gilt er zu Recht als einer der bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Und dennoch fehlt „Kaltenburg“ etwas. Es bleibt nach der Lektüre der Eindruck, als hätte dem Roman Entscheidendes nicht zu fassen bekommen. Was weniger daran liegt, dass das Garn der Sprache zu dünn wäre, im Gegenteil. Doch sind die Fäden der Themen, der Zeitebenen und der Figuren so weitläufig ausgelegt, dass selbst auf knapp 400 Seiten die Maschen grob und viele Enden lose, zumindest vage bleiben.

Vielleicht liegt ein Problem darin, dass durch die prominenten Paten Lorenz (Kaltenburg), Beuys (Spengler) und Sielmann (Sieverding) die mit ihnen verknüpften Figuren zu sehr angebunden sind, zu wenig Spielraum haben, ihre eigene Geschichte zu entwickeln. Ein Effekt hiervon ist zum Beispiel die Dominanz des Psychologischen. Obwohl vom NS-Warthegau über die Bombardierung Dresdens bis hin zu den Slansky-Prozessen, dem 17. Juni 1953, dem Mauerbau sowie (indirekt) dem Mauerfall zentrale Daten der politischen Geschichte erzählt werden, handeln die Figuren überwiegend nach psychologischen Motiven.

„Erinnerung, sprich“ – Vladimir Nabokovs Autobiografie liefert Beyers Roman das Motto: „Ach, bloß ein kleiner Vogel – der hat keinen Namen.“ Literarisches Schreiben über Geschichte berichtet nicht wie die historische Wissenschaft repräsentativ aus der Vogelperspektive, sondern sie kann von unten erzählen. Beyers poetische Begabung verdichtet diese Erzählung immer wieder zu Denkbildern über das Erinnern selbst. Und dennoch formuliert „Kaltenburg“ ein Versprechen. Hermann Funk, das ist, wie der Toningenieur aus „Flughunde“, ein Erzähler, der empfängt und sendet, der Schwingungen aufnimmt, die unsichtbar sind, sie verwandelt und vernehmbar macht. Das ist Marcel Beyers Haltung: etwas zu merken von unserer Zeit und hierfür eine Darstellungsform zu suchen.

Marcel Beyer: Kaltenburg. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2008. 397 Seiten, 19,80 €. Verena Auffermann stellt Autor und Buch heute Abend um 20 Uhr in der Berliner Literaturwerkstatt vor.

Marcel Beyer, 1965 in Württemberg geboren, lebt seit 1996 in

Dresden. Er debütierte 1991 mit dem Roman „Das Menschenfleisch“.

2006 erhielt er den Erich-Fried-Preis.

Thomas Wild

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