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Literatur: Karten und Keulen

Margriet de Moors kunstfertiges Melodram „Der Jongleur“

Wenn der Conferencier auf der anderen Seite der Tür seinen Namen brüllt, ist es an der Zeit. Dann brandet Applaus auf und Charles Pluut, elegant und arrogant, tritt ins Rampenlicht. Man starrt den Artisten bereitwillig an; einen Gulden fünfzig haben die Leute bezahlt, um diese Lackschuhe zu sehen und diesen Frack, und um die Sekunden zu erleben, in denen ihre Augen beschummelt werden, Spazierstöcke sich in Zuckerbrote verwandeln und Salzfässchen bis in alle Ewigkeit Salz streuen: „Meine Damen und Herren. Ich schlage vor, dass wir die Gegenstände, mit denen wir uns im täglichen Leben umgeben, heute Nachmittag mal ihrer ursprünglichen Eigenschaften berauben.“

Dieser Zauberkünstler, der im Amsterdamer Varietémilieu der Nachkriegszeit auftritt, im Tuschinski, im Carré oder im Extase-Femina, vermag nur scheinbar die Naturgesetze zu unterlaufen; sein Können bedeutet Vorspiegelung; seine Passion ist Perlusion. Im Gegensatz dazu obliegt es dem Keulenwerfer, qua körperlichen Könnens zu begeistern, blind mit der Schwerkraft zu spielen, millimetergenau. Zauberer und Jongleur bilden gewissermaßen die Kehrseiten derselben Medaille: Hier eine Angelschnur rücklings im Ärmel versteckt, dort fliegende Gegenstände, wie Planeten um ihre eigene Achse kreisend, auf einer Ellipsenbahn um den menschlichen Körper. Hier ein vom Tisch hoch springender Satz Karten, dort kontrolliert umher wirbelnde Kästchen. Hier allerlei Zauberkünstlerbrimborium, dort keine Spur von Täuschung, sondern riskante Attraktion.

Treten beide, Zauberer wie Keulenwerfer, zwar nicht gemeinsam auf der Bühne, aber zusammen in einem Roman vor das Publikum, ist ein Konflikt vorprogrammiert. Es geht um die Anziehungskraft von Antagonismen und um deren Abstoßungspotenzial zur selben Zeit. Von solchen Polen erzählt Margriet de Moor in ihrem neuen Roman „Der Jongleur“ ohne Rührseligkeit, auch ohne einseitige Sympathie, sondern mit einem Faible für diese artistischen Verhältnisse, die die Menschen so fest aneinanderketten. In ihrem kleinen Buch mit dem vielleicht doch eine Idee zu einsilbigen Titel wohnen die Figuren in einem einschlägigen Etablissement, in dem Charles Pluut, der mit bürgerlichem Namen Rinus Ridder heißt, dem Jongleur Pieter alias Mister Peter Newton begegnet. Dieser fasziniert den anderen, distanziert sich aber unablässig von ihm. Das fuchst den Zauberer, der nichts unversucht lässt, eine Freundschaft zu erreichen (und dabei fast alles nur noch schlimmer macht).

Als figuratives Beiwerk tritt beiden ein mit viel Feingefühl ersonnenes Artistengrüppchen zur Seite: die Pensionswirtin Minna Bolyn etwa, eine gutherzige Frau mit haselnussfarbenem Haar, die fast alle mit Mevrouw Minna ansprechen; Diana Williams, eine blondierte Frau von wuchtigen, fast Schrecken erregender Ausmaßen, die als Deckenläuferin angefangen hatte, samt Ehemann; der Antipodist Signor Bruno in Gesellschaft zweier Zwerginnen; und die Tänzerin Daisy, die sich in Pluut verliebt und die Mister Peter heimlich begehrt – sie steht im Zentrum des Täuschungsmanövers, durch das der Zauberer die Zuneigung des Keulenwerfers erhaschen will.

De Moors Geschichte, die in der Pension Rembrandt ebenso spielt wie in Rotbarschkneipen, zeigt am Beispiel besonders begabter Menschen die Tragödie ganz besonderer Verhältnisse, und doch wirkt die Geschichte, um die es geht, der Komplott, den sich ein intelligenter, musisch bewegter Mensch mit Hang zur Hinterlist ersinnt, und die Katastrophe, auf die die Handlung zusteuert, alltäglich, menschlich, also lebensecht.

Dabei hat Margriet de Moor, die Gesang und Klavier studiert hat, Konzertpianistin und Sängerin war und die sehr erfolgreiche Romane über „den Virtuosen“ (1994), die „Kreutzersonate“ (2002) und zuletzt die „Sturmflut“ (2006) vorlegte, ihren Text als Melodram angelegt und insgesamt musikalisch komponiert. Die Musik kommt an vielen Stellen tatsächlich zum Zuge, ist die Folie, vor der wir ihre Bücher lesen müssen: Themen werden vorgestellt und durchgespielt, werden ausgesetzt, um sie später wieder aufzugreifen. Und das heißt auch, dass die Biographie einer Figur meist in kurzen Rückblicken aufblitzt, dass Figurenleben hin und her geworfen werden wie die Bälle eines Jongleurs, um dann am Ende als beinahe undurchschaubares Zauberkunststück zu erscheinen.

Margriet de Moor: Der Jongleur. Ein Divertimento. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Hanser Verlag,

München 2008.

160 Seiten, 16, 90 €

Oliver Ruf

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