zum Hauptinhalt
Helsinkio

© dpa

Kjell Westö: Licht Stadt Bürgerkrieg

Mit seinem Roman "Wo wir einst gingen" hat der Schriftsteller Kjell Westö ein großes Sittenbild der finnischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen. Ein Besuch in Helsinki.

Es ist Freitagmittag, 13 Uhr, als die ersten dunklen Wolken an diesem bislang strahlenden Herbsttag am Himmel über Helsinki auftauchen. Sie bewirken, dass der düster-massive, schlossähnliche Granitsteinbau mit dem hoch aufragenden Turm noch düsterer und bedrohlicher ausschaut. Seit gut einem Jahrhundert gibt es hier nicht nur eine Bar und ein Restaurant, sondern dienen die Räumlichkeiten auch finnischen Arbeitervereinen als Büro- und Sportstätte. Bei diesen Lichtverhältnissen kann man sich gut vorstellen, wie 1918 im Turm des Hauses eine rote Laterne brennt und das Kampfsignal für die roten Garden darstellt, die nach der Ablösung Finnlands von Russland 1917 und nach schweren inneren Konflikten für kurze Zeit die Macht im Land übernehmen. So steht es in Kjells Westös großem finnischen Gesellschaftsroman „Wo wir einst gingen“, so könnte es sich zugetragen haben. Doch Kjell Westö hilft dem Besuch aus Deutschland gleich auf andere Sprünge. Er erinnert daran, wie er in seinem Roman die vielen Fakten der Wirklichkeit mit noch viel mehr Fiktion angereichert hat. Denn die rote Laterne ist das eine. Das andere ist die Geschichte eines kleinen Jungen aus gutbürgerlichem Haus, der vor dem Arbeiterhaus im Schnee stecken bleibt, die Laterne erblickt und von einem Rotgardisten über ihre Bedeutung aufgeklärt und mit diesem Wissen wieder nach Hause geschickt wird.

Etwas verloren steht Kjell Westö in seiner dünnen schwarzen Lederjacke an diesem Freitag vor dem Arbeiterhaus Juttutupa. Er ist ein schmächtiges Kerlchen mit langsam lichter werdendem Haar, schreitet aber unbeeindruckt vom kalten Herbstwind schnellen, kleinen Schrittes voran, um den nächsten Schauplatz seines Romans zu zeigen – mehrere Bürgerhäuser aus der Gründerzeit, in denen einige seiner Figuren wohnen. Die Lange Brücke, die einst die Arbeiterbezirke von den bürgerlichen Vierteln trennte und von den Reichen nur mit einem Revolver in der Tasche überquert wurde. Oder das einstige Arbeiterviertel Vallila, das heute mit seinen Holzhäusern viel Pittoreskes hat und einem starken Gentrifizierungsdruck ausgesetzt ist.

Helsinki, wo Westö 1961 geboren wurde und heute noch lebt, ist die eigentliche Heldin von „Wo wir einst gingen“. Der Roman steckt voller topografischer Details und schildert immer wieder, wie sich das Stadtbild, das architektonische zumal, im Verlauf der Jahrzehnte ändert, von Anfang des 20. Jahrhunderts, da der Roman zeitlich einsetzt, bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges: „Im Stadtzentrum riss man einen Häuserblock ab und zog die Hagasundsgatan von der Alexandersgatan weiter bis zur Norra Esplanaden; das Handelshaus Stockmann, das in just diesem Häuserblock ein Grundstück erworben hatte, schlug vor, der Abschnitt solle den stattlichen Namen Centralgatan erhalten.“

Kjell Westös Kunst ist es, vor diesem städtischen Hintergrund einem Ensemble von Figuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus und mit unterschiedlichsten Schicksalen viel Leben einzuhauchen. Und das in einer Sprache, die voller poetischer Momente steckt, die das Licht und die Schatten der finnischen Landschaft und Mentalität subtil zu charakterisieren weiß. Auch stadtfremde Leser dürften sich gern von Westö und seinen Figuren führen lassen. Denn, so weiß es der schreibende Intellektuelle Ivar Grandell im Roman: „An jedem Ort, wo ein Mensch gegangen ist, gibt es eine Erinnerung an ihn“.

Nach dieser Devise erzählt Westö, wie es etwa den Großbürgersöhnen Eccu Widing und Cedi Lilljehelm und dessen Flapper-Schwester Lucie ergeht, und deren zahlreichen Freunden. Aber auch dem aus einer Arbeiterfamilie stammenden Allu Kajander und seiner Frau Mandi. Wie sie alle den Bürgerkrieg 1918 erleben, die kurze, brutale Machtübernahme der Roten, auf die die nicht weniger brutale Rache der Weißen nach dem Zusammenbruch des bolschewistischen Regimes folgt; dann die Re-Demokratisierung, die wilden zwanziger Jahre, die schwierigen dreißiger Jahre mit ihren faschistischen Unterströmungen.

Gerade die Kapitel über die Zeit des Bürgerkriegs gehören zu den intensivsten des Romans, nicht zuletzt weil Westö mit der distanzierten Unbefangenheit eines Nachgeborenen beide Seiten darstellt. So lässt er etwa den kurze Zeit als roten Kommandeur agierenden Vater von Allu, Enok Kajander, auf Lucie Lilljehelm treffen (die sich später mit seinem Sohn Allu auf eine stürmische Liason einlässt). Und so verüben Cedi und Eccu als Soldaten der Bürgerlichen nach dem Sturz der Roten einige Gemetzel, die den einen, Cedi, nur noch mehr verhärten und in das Lager der Rechten treiben, und den anderen tiefer und tiefer in Alkohol und Depressionen stürzen lassen.

Kjell Westö erklärt, dass sein Roman in den sechziger und siebziger Jahren sicher eine viel größere historische Debatte entfacht hätte als in diesem Jahr, da der Bürgerkrieg sich zum 90. Mal jährt. Und er ergänzt, dass seine zwei Großväter in späteren Kriegen umgekommen seien: der eine väterlicherseits im Winterkrieg 1940, der zwischen Finnen und Russen ausgetragen wurde. Jener mütterlicherseits zu Beginn des sogenannten Fortsetzungskriegs im Sommer 1941. Darüber sei in seiner Kindheit nie gesprochen worden: „Die Geschichte war eine Wunde. Die Geschichte war Schweigen, sie war etwas, worüber man nicht sprach.“

Selbst heute noch, so Westö, würde auch in seiner Generation zu wenig gesprochen werden. Für ihn gelte das nicht, fügt er ernsthaft an. Tatsächlich ist er an diesem Nachmittag eloquent und auskunftsbereit, dazu in vielen Sprachen zu Hause: Westö spricht neben Finnisch auch Schwedisch, da seine Eltern aus einer überwiegend schwedischsprachigen Stadt an der finnischen Westküste stammen und seine alltägliche Umgangssprache der schwedische, mit vielen finnischen Worten durchsetzte Helsingforsslang war. Seine Bücher schreibt er auf Schwedisch, und nicht zuletzt ist Helsinki, schwedisch Helsingfors durchgängig zweisprachig, auch wenn der Anteil der schwedischen Bevölkerung nur fünf Prozent beträgt. Zudem spricht Westö fließend Englisch und Deutsch.

Die Frage nach möglichen historischen Vorbildern seiner Romanfiguren beantwortet er mit dem Verweis auf leidenschaftliche Recherchen: von Fußmärschen durch Helsinki über viele Stunden im städtischen Fotoarchiv bis zur Lektüre zahlreicher Bücher über die Geschichte der Stadt, insbesondere seine Entwicklung von einer Kleinstadt Ende des 19. jahrjunderts bis zu einer europäischen Metropole mit immerhin 560 000 Einwohnern. „Je mehr ich recherchiere“, so Westö, „desto besser kann ich meine Fiktionen entwickeln und meine Figuren gestalten“. Und dafür las er dann auch mit Vergnügen einen Roman wie Zelda Fitzgeralds „Save Me The Waltz“, um sich besser in eine genauso lebenslustige wie emanzipierte junge Frau wie Lucie Lilljehelm einfühlen zu können,

Begonnen hat Kjell Westö als Lyriker, ein „schlechter“ sei er gewesen, gesteht er. Dann schrieb er Ende der achtziger Jahre Kurzgeschichten und Erzählungen und wurde gleich mit seinem ersten Roman „Die Drachen über Helsingfors“ 1996 skandinavienweit bekannt. Sein zweiter Roman „Vom Risiko, ein Skrake zu sein“ erschien vier Jahre später; ein Roman, der versucht, „das 20. Jahrhundert Finnlands anhand einer Familie einzufangen, deren Männer Spezialisten darin sind, am falschen Ort zur falschen Zeit das Falsche zu tun.“

Dominieren darin vor allem die fünfziger bis siebziger Jahre, so gräbt Westö jetzt mit „Wo wir einst gingen“ noch einmal tiefer in der Vergangenheit, um das von älteren finnischen Generationen sorgsam Geheimgehaltene und Verborgene ans Licht zu zerren und zu verstehen.

Das Schöne dabei ist, dass er seine Stadt keineswegs konservieren oder gar in Blattgold einrahmen will, so wie das Orhan Pamuk mit seinen jüngsten Istanbul-Büchern gemacht hat. Kjell Westö liebt seine Stadt, keine Frage, von Idealisierungen oder Schönfärbereien aber ist er weit entfernt. Von Schuld, die man ein Leben lang mit sich herumträgt, erzählt sein Roman, von der Vergangenheit, die kräftig in die Gegenwart reicht, im Bewusst- oder Unterbewusstsein der Menschen. Dazu aber lässt Westö immer noch andere Spuren mitlaufen. In diesen wird gefeiert und Jazz gespielt, in diesen wird Sport getrieben, Fußball, Tennis, aber auch der gewissermaßen offizielle, politisch aufgeladene Sport: die finnischen Ausnahmeläufer, die Olympischen Spiele 1932 und natürlich 1936.

Helsinki ist in „Wo wir einst gingen“ eine vitale, sich in einer dauernden Veränderung befindliche Stadt – was wiederum heutzutage bei einem wenn auch nur kurzen, zweitägigen Besuch schwer nachzuvollziehen ist. Leer und weiträumig wirkt das Zentrum. Selbst dort, wo die Shopping-Tempel stehen (so wie weiterhin das Kaufhaus Stockmann), zum Beispiel in der Alexandersgatan, braucht es keine Ellenbogen oder ständige Ausweichmanöver.

Westö aber steht gut unter Strom, so geschwind, wie er durch seine Stadt führt. Auch seine zwei Söhne, von denen der eine nach einem Intermezzo bei Werder Bremen in der zweiten finnischen Liga professionell Fußball spielt, halten ihn in Atem. Immer mal wieder verschwindet er, um zu telefonieren oder sich mit einem von ihnen für eine halbe Stunde zu treffen. Am Ende des Tages, über Helsinki hat sich schon lange die abendliche Dunkelheit gelegt, gesteht Kjell Westö noch, davon zu träumen, den langen finnischen Wintern endgültig den Rücken zu kehren und in den Süden Europas überzusiedeln. Um dann aber gleich anzufügen, fast reumütig: „Das Licht in Helsinki in den Sommermonaten ist so einmalig, es gibt eigentlich nichts Schöneres.“

Kjell Westö: Wo wir einst gingen.

Roman. Aus dem Finnlandschwedischen von Paul Berf. btb, München 2008. 651 Seiten, 19, 95 €.

Auf Deutsch ebenfalls bei btb erschienen sind der Roman Vom Risiko, ein Skrake zu sein, der Krimi Das Trommeln des Regens und die Erzählsammlung Tante Elsie und der letzte Sommer.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false