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Leseempfehlungen: Weinende Schmetterlinge, lachende Kadetten

Von Weltausbesserern und Sprachterroristen: Sechs Moderatoren des Berliner Literaturfestivals empfehlen ihre Autoren.

Sigrid Löffler über Michael Ondaatje

Der Lyriker und Erzähler Michael Ondaatje, Jahrgang 1943, ist ein Mann der gespaltenen Herkünfte, mit Wurzeln in Holland, England und Sri Lanka, mit kanadischem Pass und Wohnort in Toronto. In seinem Werk umkreist er seit je die Fragmentierungen im Menschenleben, die Aufsplitterungen des Ich in Teilidentitäten, die biografischen Umschwünge und Verwerfungen, meist durch jähen Gewalteinbruch. Sein großes Thema ist die Weltausbesserung. Seine Figuren versuchen, das Zerbrochene und Zerfallene zu flicken, die Stücke wieder zusammenzufügen und die Frakturen zu reparieren – in der Welt und in sich selber. Sie schlagen eine Brücke von einer Seite Torontos zur anderen (im Roman „In der Haut eines Löwen“); sie heilen die Wunden des Zweiten Weltkriegs in Italien („Der englische Patient“) oder des Bürgerkriegs in Sri Lanka („Anils Geist“). In seinem jüngsten Roman „Divisadero“ radikalisiert Ondaatje sein Thema: Hier zerbricht eine Familie, und damit bricht auch der Roman ab und setzt nach einer Zäsur neu an, mit der Rekonstruktion eines Dichterlebens – und als Versuch einer Selbstheilung. (So., 9.9., 19 Uhr, HdBF)

Nathalie Mälzer-Semlinger über

lê thi diem thúy

lê thi diem thúy wurde 1972 in Südvietnam geboren. 1978 floh sie mit ihrem Vater auf einem Boot vor den Nachkriegswirren. Beide wurden von einem amerikanischen Kriegsschiff aufgenommen, nach Singapur in ein Flüchtlingslager und von dort aus nach San Diego gebracht. Mutter und Schwester kamen erst zwei Jahre später nach. Das Mädchen lernte rasch Englisch und begann, viel zu lesen, tauchte dabei gern in die Welt der Märchen ein. 1990 floh sie von zu Hause und studierte in Massachusetts. Zu diesem Zeitpunkt begann sie auch zu schreiben. Ihr erster Roman „Das Weinen des Schmetterlings“ fußt auf einer Erzählung, die ihrerseits aus einer Solo-Performance hervorgegangen ist. Darin verarbeitet die Autorin zart poetisch und in bilderreicher Sprache die Erfahrungen ihrer Familie im amerikanischen Exil. (Fr., 14.9., 21 Uhr 15, HdBF)

Arno Widmann über Elif Shafak

Elif Shafak, 1971 in Straßburg als Tochter einer türkischen Diplomatin geboren, lebt heute in Istanbul und den USA. Sie wuchs in einer Familie heran, in der Atatürk als Vater der Nation verehrt wurde. Sie hat die Achtung vor dem Willen zur Moderne nie verloren. Sie verstand aber bald, dass auch die Modernisierung der türkischen Gesellschaft mit Terror durchgesetzt wurde. Mit ihren Romanen, Erzählungen und Essays eckt sie sowohl bei den Modernisten als auch bei den Vertretern eines rücksichtslos politischen Islam an. Den einen preist sie zu sehr den Multikulturalismus des ausgehenden Osmanischen Reiches, den anderen ist ihr Eintreten für die Rechte der Minderheiten ein Ärgernis. Elif Shafak tritt immer wieder auch vor Gericht ein für das Recht eines jeden, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen und es anderen mitzuteilen. Sie tut es aus Liebe. Zu den Menschen und zur Sprache. (Fr., 7.9., 19 Uhr 15, HdBF)

Gabriele von Arnim über Aharon Appelfeld

Fast alle Romane des israelischen, 1932 in der Bukowina geborenen Aharon Appelfeld kreisen um das Thema seines Lebens, das Thema des barbarischen 20. Jahrhunderts: die Verschleppung und Ermordung der europäischen Juden. Er schreibt über die Pein des Lebens nach dem Überleben, über die unentrinnbare Vergangenheit, die mögliche Gegenwart, über den Schrecken der Sprachlosigkeit. Und schreibt über diese so bedrängenden Themen mit bestürzend klarer Härte und staunenswert kluger Sanftheit. „Pathos und große Worte hatte ich noch nie gemocht. Dagegen mochte und mag ich das Schauen“, sagt Appelfeld. Seine Sprache ist durchdrungen von einer Wahrhaftigkeit, in der man sich aufgehoben fühlt. (Mi., 5.9., 19 Uhr, Hôtel Concorde)

Ilma Rakusa über Cosmin Manolache

Cosmin Manolache, Jahrgang 1973, stammt aus dem walachischen Städtchen Mizil und lebt heute in Bukarest. Zu schreiben begann er während seines Studiums an der Bukarester Offiziersschule. „Als Kadett verbrachte ich unzählige Tage im Donau-Delta. Ich musste mich irgendwie vor den endlosen Weiten des Schwemmlands schützen.“ Nicht wenige seiner Erzählungen spielen im „Soldatenmilieu“, andere – etwa im Kurzgeschichtenband „Ach, mein schreckliches Gesicht!“ – beleuchten den sozialen Dschungel der Großstadt. Manolache, der in Bukarest Anthropologie studierte, ist ein gnadenlos genauer Menschenbeobachter. Doch fehlt es ihm dabei weder an Herz und Humor noch an Poesie. Ob er Ganoven und Außenseiter der postsozialistischen Gesellschaft oder die eigene Jugend unter Ceausescus Diktatur beschreibt – die schlechte Wirklichkeit verwandelt sich durch seine Sprachkraft in literarisches Neuland. Eine Entdeckung! (Mi., 5.9., 21 Uhr 30, HdBF)

Bernhard Robben über Chuck Palahniuk

Auf den ersten Blick scheint Chuck Palahniuk kein Wässerchen trüben zu können, und doch sagt man ihm nach, ein Sprachterrorist zu sein – und seinen Romanen, Anschläge auf das gute Gewissen Amerikas zu verüben. In „Das Kainsmal“ erinnern sich die unterschiedlichsten Menschen an den Protagonisten, einen Mann mit Kuhscheiße an den Cowboystiefeln, an einen Jungen mit einer Vorliebe für Giftspinnen, Kojoten und Skorpione. Sie erinnern sich daran, wie er sich einer Gang von „Party Crashern“ anschloss, die sich wilde Autoverfolgungsjagden lieferte, und daran, wie er als ‚Kusskiller‘ berühmt wurde, als Amerikas wandelnde biologische Massenvernichtungswaffe. „Rant“, so der Originaltitel von „Das Kainsmal“, ist jenes Geräusch, das Kinder beim Kotzen von sich geben. Dieser morbide, groteske, provozierende und manchmal auch bloß urkomische Roman ist so bekömmlich wie ein giftiger Cocktail. (So., 9.9., 21 Uhr, HdBF)

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