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Lesungen: Die Germanistenlüge

Lesungen, Empfehlungen, Tipps: Steffen Richter über die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen.

Germanistik, stand Mitte der Neunziger in einem Zeitungsartikel, werde „aus Gewohnheit betrieben“ und „aus Irrtum studiert“. Da ist auch heute noch was dran. Wie viele von denen, die schon mal ein Buch gelesen haben, glauben, sie seien zum Germanistikstudium bestimmt? So kommt es, dass alljährlich Abertausende Nicht-oder-nur-im-Notfall-Leser die germanistischen Hörsäle entern.

Verfasser des Zeitungsartikels war der Stuttgarter Germanist Heinz Schlaffer. Er ist ein Beweis dafür, dass die Germanistik besser sein kann als ihr Ruf, nämlich frisch und polemisch. Einer größeren Öffentlichkeit ist Schlaffer bekannt, seit er 2002 „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ veröffentlichte. In diesem listigen 150-Seiten-Essay hatte er behauptet, eine deutsche Literaturtradition seit dem 8. Jahrhundert bis heute sei schlicht erfunden. Zudem leide die deutsche Literatur an Weltlosigkeit, sei dem Kommerz und der Politik entrückt. Nur die Jahre von 1770 bis 1830, also Klassik und Romantik, sowie von 1900 bis 1950, die Dekaden der klassischen Moderne, wollte Schlaffer gelten lassen. Das freilich war starker Tobak, für den er von seinen Kollegen Prügel bezog. Im Grunde aber ging es vielleicht weniger um Literatur als um eine Selbstverständigung über die Germanistik. Und die hat das Fach, das von den Brüdern Grimm als Politikum begründet wurde („Unsere Studien umfassen das Vaterland“) bitter nötig. Deswegen dürfte der diesjährige Heinrich-Mann-Preis Heinz Schlaffer nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Impulsgeber von Debatten ehren. Am 6.4. (20 Uhr) gibt es in der Akademie der Künste (Pariser Platz 4, Mitte) die Preisverleihung mit Volker Braun und Laudator Thomas Steinfeld.

Schlaffer hat auch ein Buch über Goethes „Faust II“ geschrieben. Goethe war und ist ein beliebtes „Turngerät“ ganzer Germanisten-Generationen. Aber auch Schriftsteller fühlen sich vom Alten herausgefordert. Jüngstes Beispiel ist Martin Walser mit „Ein liebender Mann“ (Rowohlt). Es geht um die Liebe des 73-jährigen Goethe zu der 19-jährigen Internatsschülerin Ulrike von Levetzow. Das war zu Marienbad im Jahre 1823, geblieben ist die „Marienbader Elegie“. Walser zeigt selbst die Liga an, in der er spielen möchte: in der von Goethe und in der von Thomas Mann, der sich mit „Lotte in Weimar“ dem Geheimen Rat genähert hatte. Ob Walser dieser doppelten Herausforderung gewachsen ist? Antwort am 7.4. (20 Uhr) im Berliner Ensemble (Bertolt- Brecht-Platz, Mitte). Selbst wenn nicht – germanistische Institute können ein neues Masterarbeits-Thema vergeben.

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