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© dpa

Literatur: Die erbärmliche Unbelehrbarkeit des Lebens

Wie aus einem Krimi ein Gesellschaftsdrama wird: Dieter Wellershoffs Roman „Der Himmel ist kein Ort“.

Selbst in der Literatur steht es schlecht um Opel. In Dieter Wellershoffs neuem Roman „Der Himmel ist kein Ort“ endet ein roter Opel Astra gleich zu Beginn als Unfallwagen, als er eines Nachts in einen See stürzt. Der Fahrer kann sich retten, indem er die Tür aufreißt, seine Frau aber kommt ums Leben. Der siebenjährige Sohn im Wagenfonds atmet eine Weile in einer Luftblase, bevor er das Bewusstsein verliert. Mit einer schweren Hirnschädigung kommt er ins Krankenhaus.

„Der Mann in seinen Armen stöhnte, als sähe er, was hinter seinem Rücken geschah und wenig Hoffnung auf Rettung ließ“, beobachtet der junge Gemeindepfarrer Ralf Henrichsen, der von der Polizei zum Unfallort gerufen wurde. Was Henrichsen nicht ahnt: Seine Umarmung des Unfallverursachers Karbe wird sich für ihn zu einem modernen Teufelspakt auswachsen. Der Pfarrer aus dem fiktiven Ort Hüngsbach befindet sich selbst in einer tiefen Lebenskrise, die auch vor seinen theologischen Überzeugungen nicht haltmacht. Bei einer Predigt versagt ihm die Stimme, und immer mehr beginnt er, an den Inhalten seiner Religion zu zweifeln und den Himmel als leeren Ort zu begreifen. Sein Amt dient ihm als bloßes Geländer, um sich durch den Alltag zu hangeln, stets im „Gefühl notdürftig beschwichtigter Einsamkeit“. Denn Henrichsen trauert seiner Freundin hinterher. Sie hatte ihn verlassen, weil ihr das Leben an der Seite eines Landpfarrers nicht erstrebenswert schien. Er sei ein „Prediger“, lautete ihr Vorwurf, der ihn immer wieder verfolgt.

Mit bezwingender erzählerischer Raffinesse überführt Wellershoff den kriminalistischen Auftakt seines Romans in eine Versuchsanordnung über grundlegende Existenzfragen. Denn der labile Geistliche, der in dem für Familien gedachten Pfarrhaus völlig verloren wirkt, sieht sein Schicksal in dem des Unfallverursachers gespiegelt: „Karbe lebte aus, was er mit der Disziplin seines Amtes in sich bekämpft hatte, damals vor einem Jahr, als er verlassen worden war.“ Hat der Realschullehrer Karbe, von seiner wesentlich jüngeren Frau wiederholt betrogen, das Auto bewusst in den Abgrund gesteuert, um der Schmach einer Trennung zuvorzukommen? Eine Bremsspur findet sich nicht. Außerdem soll der verschlossene Melancholiker bereits frühzeitig ein sogenanntes Tiefengrab bestellt haben, in dem die Toten übereinanderliegen – nicht nur für Henrichsen eine grausige Vorstellung.

Der Fall Karbe setzt kollektive Rachephantasien frei und entfesselt den Zorn der Bürger. Henrichsen macht sich unbeliebt, indem er auf der Unschuldsvermutung beharrt. Bereits in „Einladung an alle“ entwickelte Dieter Wellershoff 1972 „verschiedene Bausteine zu einer Theorie des Verbrechens“. Darin heißt es: „Wenn man annimmt, dass in jedem Menschen aggressive und destruktive Triebe angestaut sind, dann tut der Verbrecher genau das, was im geheimen alle tun möchten. Der Normale versöhnt seine aggressiven Wünsche mit seiner Moral, indem er den Verbrecher verfolgt.“ Unmerklich wandelt sich der Krimi zum Gesellschaftsdrama, um schließlich zum Entwicklungsroman des Zweiflers Henrichsen zu werden. Ausgerechnet in der „erbärmlichen Unbelehrbarkeit des Lebens“ erfährt er Trost.

Seit Petra Morsbachs Roman „Gottesdiener“ (2004) über den Alltag eines bayerischen Priesters ist der Berufsstand und Bewusstseinszustand eines Geistlichen nicht mehr so facettenreich ausgeleuchtet worden wie in diesem so frappierend aktuellen und dabei zeitlosen Buch. Der 83 Jahre alte Dieter Wellershoff führte zahlreiche Gespräche mit Pfarrern aus dem Rheinland. Der dem Protestantismus inhärente Zweifel grundiert den Roman und verleiht ihm ein lutherisches „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, das auch den Leser zwingt, sich zu positionieren. Henrichsens Irritation gipfelt in der sanft ironischen Schilderung einer Akademietagung, deren Diskussionen ausführlich referiert werden. Es treten selbstzufriedene Mandatsträger auf, die an Bölls dienstbeflissene Katholiken mit ihren karikierenden Namen erinnern. Für Henrichsen wird dieser Kongress nach dem Unfall zum zweiten Wendepunkt. Wenn ihm die Religion die erhoffte Erlösung nicht bietet, so will er es nun mit dem anderen Transzendenz-Versprechen versuchen: der Liebe. Bei der Trauung gleich nach der Unfallnacht war er ins Visier einer liebeshungrigen Deutsch-Argentinierin geraten, die ihn nun mit kühnen Briefen lockt. In ihnen entfaltet sich ein verheißungsvolles Paralleluniversum, das der Realität nicht standhalten kann. So wie Wellershoff in seinem kühlen Schicksalsroman „Der Liebeswunsch“ (2000) eine authentische junge Frau an ihrer Schutzlosigkeit scheitern ließ, fühlt er sich auch hier sensibel in diese Nebenfigur namens Luiza ein. Ihr aufkeimender und nach der Zurückweisung jäh schwindender Lebenshunger erinnern an eine andere unglückliche Südamerikanerin in der deutschen Literatur: Señora Romana Tieffenbacher, die Titelgestalt in Wilhelm Raabes verwunschener Erzählung „Prinzessin Fisch“. Die Exotin mit ihrem „suchenden Blick aus den dunklen, tieffliegenden, fremdländischen Augen“ verwelkt in der Kälte des gründerzeitlichen Philister-Deutschlands wie eine seltene schöne Pflanze.

Auch im protestantischen Pfarrhaus kann es seit Hölderlins Zeiten bekanntlich sehr kalt sein. Dieter Wellershoff schildert das in bester Tradition der von ihm mitbegründeten Kölner Schule des neuen Realismus. Sein überlegenes stilistisches Instrumentarium stellt er dabei ganz in den Dienst der Sache. Vielleicht ist die Literatur ja doch die verlässlichste Instanz der Sinnsuche.

Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 304 S., 19,95 €.

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