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M. J. Hyland: "Die Liste der Lügen"

M. J. Hyland erzählt von einem irischen Sonderling in den 70er Jahren.

Von Patricia Wolf

Für einen Elfjährigen ist John Egan ein ungewöhnlicher Junge: gut einen Meter siebzig groß – und im Stimmbruch ist er auch schon. Vor allem aber ist John ein kluger und sensibler Sonderling, der uns als Erzähler zu sich nach Hause holt – ins Irland der frühen siebziger Jahre, wo er mit seinen Eltern und seiner Großmutter wohnt. Seine Tage verbringt er meist allein, seinen einzigen Freund wird er schon bald verlieren.

Mit John hat die 1968 geborene M.J. Hyland, Tochter irischer Eltern, in ihrem zweiten Roman „Die Liste der Lügen“ einen unvergesslichen, zärtlichen und verstörenden Charakter geschaffen. John ist zuversichtlich, einst im Guinessbuch der Rekorde zu stehen, seiner Lieblingslektüre. Denn er will keinesfalls so werden wie sein Vater, den er liebt, aber der ein Versager ist. John glaubt, eine besondere Gabe zu besitzen: die Lügen seiner Mitmenschen zu durchschauen. Wie ein Buchhalter fertigt er eine Liste ihrer Lügen an. Und statt mit seinen Kumpels Fußball zu spielen, zieht er es vor, nachzudenken. Doch Denken allein reicht nicht zum Leben. John sehnt sich nach Zärtlichkeit. Wird ihm das verwehrt, weil seine Eltern zu sehr mit sich selbst und ihren Sorgen beschäftigt sind, beschließt er einfach, solche Bedürfnisse nicht zu haben. So wird er zum Meister darin, seine Gefühle von sich abzuspalten. Immerzu kratzt er sich am Kopf eine Stelle blutig, doch „es tut nicht so weh, wie man denken könnte. Das Loch gehört eigentlich nicht zu mir.“

Im Schwellenreich der Pubertät zwischen kindlicher Unschuld und jugendlichem Wahnsinn irritiert John nicht nur seine Lehrer und Mitschüler, sondern auch seine eigene Mutter, die ihn am liebsten zum Arzt schleppen würde.

John ist besessen von Lügen – und sucht dabei doch nur nach Wahrheit. Der Roman erzählt davon, was sie anrichten kann. Als er eine abscheuliche Lüge seines Vaters aufdeckt, beschwört er eine Tragödie herauf. Seine Mutter, die er damit vor der Depression retten wollte, hält ihm dagegen vor, den „Schmerz der Wahrheit“ weniger als die Unwissenheit ertragen zu können. John in seiner jugendlichen Kompromisslosigkeit ahnt noch nicht, dass eine Unaufrichtigkeit manchmal hilft, unsere Seele zu schützen. Hyland erzählt davon mit empfindsamer Beobachtungsgabe. Ihr mit viel Witz geschriebener Roman stand völlig zu Recht auf der Shortlist für den Booker Prize. Patricia Wolf

M. J. Hyland: Die Liste der Lügen. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Piper Verlag, München 2007. 384 Seiten, 19,90 €.

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