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Claudia Roth, Özcan Mutlu und Franziska Eichstädt-Bohlig tanzen zu türkischer Musik am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg.

© Tjilo Rückeis

Bundestag: Migranten im Parlament

37 Abgeordnete im Bundestag haben Grenzen überschritten, oder doch zumindest ihre Eltern. 20 von ihnen erzählen ihre Geschichte.

Immerhin 20 von 37 Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund hat Özcan Mutlu dazu bewegen können, ihre Geschichte zu erzählen. Der grüne Bundestagsabgeordnete aus Berlin berichtet selbst, wie er sich in den ersten Schuljahren in einer „Ausländerregelklasse“ wiederfand, mit so vielen türkischen Kindern, wie er sie „seit unserem Dorf“ in Anatolien nicht mehr „auf einem Haufen“ gesehen hatte. Dass er es dennoch zum Ingenieur brachte, verdankte er „einer engagierten Lehrerin“. Glück gehabt – Cem Özdemir, der die Grünen in den nächsten Bundestagswahlkampf führen wird, hatte es nicht. Ihm trauten die Lehrer in der Grundschule wenig zu, und sein Schulweg führte ihn zu seiner großen Enttäuschung in die Hauptschule.

Dass Mutlus Eltern auf der Ehrentribüne des Bundestags ihren Sohn 2013 gerührt dabei beobachten konnten, wie er sein Amt antrat, war für Mutlu ein besonderer Moment. Er mag ihm dabei geholfen haben, mit den Hassbotschaften und Todesdrohungen fertig zu werden, die ihn und andere türkischstämmige Abgeordnete sowohl von rechtsradikalen Deutschen als auch von Türken erreichen. Letztere, als der Bundestag in seiner Armenien-Resolution die Vertreibung und Ermordung von Armeniern durch die Türken am Anfang des 20. Jahrhunderts als „Völkermord“ bezeichnet hatte.

Nichts ist selbstverständlich

Die türkischstämmigen Abgeordneten, ob nun bei den Grünen, der SPD, der CDU oder der Linken, berichten alle von Diskriminierungserfahrungen, die sie geprägt haben. Mutlu schreibt: „Wenn es hart auf hart kommt, bin ich immer noch ,der Türke‘.“ Seine Kollegin Ekin Deligöz, die trotz Abitur und Verwaltungsstudium bei ihrer Einbürgerung gefragt wurde, ob sie überhaupt Deutsch könne, stellt fest, „dass ich mich immer beweisen muss“. Cansel Kiziltepe aus Kreuzberg, die für die SPD in den Bundestag eingezogen ist, bedauert, dass „nichts Selbstverständliches“ darin liege, wenn jemand mit einem türkischen Namen ein öffentliches Amt übernehme, „sondern etwas Exotisches schwingt mit“.

Alexander Radwan, der die CSU in Berlin vertritt, sagt, er selbst habe nie Diskriminierung erfahren, aber er habe das „bedauerlicherweise mehrfach beobachten müssen“, wenn der Migrationshintergrund offensichtlicher war. Radwans Vater stammt aus Ägypten. Es gibt aber auch Abgeordnete, bei denen nicht sofort offensichtlich ist, dass sich auch hinter ihrem Namen „die Geschichte einer Grenzüberschreitung verbirgt“, wie das Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) ausdrückt. Swen Schulz zum Beispiel: Der SPD-Politiker aus Hamburg hat eine spanische Mutter – und sieht sich ebenso wenig als Politiker mit Migrationshintergrund wie Kai Whittaker (CDU), dessen Vater Brite ist. Das hat er übrigens mit der SPD-Generalsekretärin Katarina Barley gemeinsam. Gitta Connemann (CDU) hat niederländische Wurzeln, Niels Annen und Daniela DeRidder (beide SPD) haben Familie in Belgien. Ihre Geschichten fügen sich zu einem Mosaik der deutschen Einwanderungsgeschichte.

Özcan Mutlu (Hrsg.): Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Deutschen Bundestag. BS Siebenhaar Verlag und Medien, Berlin/Kassel 2016. 224 S., 19,80 €.

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