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Literatur: Neun mal neun Rätsel

Rainald Simons Neuübertragung des Daodejing

Von Gregor Dotzauer

Kein heiliges Buch, dessen Hunderte von Übersetzungen in verwirrenderen Nuancen schillern. Keines zugleich, das sich schneller überflüssig machen würde, gäbe es ein ideales Verständnis seiner 81 Kapitel. Die Bibel oder der Koran sind Teil einer religiösen Verkündigung, die sich ständig auf das Wort Gottes bezieht – als Leitfaden alltäglichen Verhaltens wie im theologischen Selbstverständnis. Das Daodejing des Laozi dagegen, die rund drei Jahrhunderte vor Christus kollektiv entstandene Zentralschrift des chinesischen Daoismus, ist bei allem, was sie an praktischen Ratschlägen enthält, weniger Teil eines Glaubenssystems als einer philosophisch durchdrungenen Mystik, die das Nichtmitteilbare ihrer Weltsicht durch paradoxe Formulierungen mitteilbar zu machen versucht.

In der neuen Übertragung des Sinologen Rainald Simon heißen die berühmten ersten Zeilen: „Dao – kann es ausgesagt werden, / ist nicht das beständige Dao. / Der Begriff, kann er definiert werden, / ist nicht der beständige Begriff.“ In der Entscheidung, das Dao das Dao sein zu lassen und daraus nicht einen „Weg“ oder gar einen „Sinn“ zu machen, wie ihn der Missionar und Sinologe Richard Wilhelm in seiner nach wie vor am weitesten verbreiteten Übersetzung entdeckte, steckt schon die eine Hälfte von Simons Unterfangen: Respekt vor dem ureigenen Denkraum des Chinesischen. Die andere zielt auf Laozis behutsame Aneignung in abendländischen Termini. Welche andere Sprache stünde uns zur Verfügung?

Simons zweisprachige Ausgabe in zeitgemäßer Pinyin-Umschrift enthält jeweils einen allgemeinen und einen Zeilenkommentar zu den Kapiteln, der auch die chinesischen Kommentare berücksichtigt – und alternative Fassungen wie die erst in den Siebzigern entdeckten Seidentexte von Mawangdui. Bei der Wahl zwischen Lesbarkeit und philologischer Lesart zählt für ihn immer Letztere. Damit macht er nun Günther Debons fünfzig Jahre alter, weitaus zugänglicherer Ausgabe in Reclams eigenem Haus Konkurrenz. Versenkung allein – ohne die Handreichungen von Karl Jaspers oder Max Kaltenmark – hat beim Daodejing indes nie geholfen. Mit dieser Studienausgabe im besten Sinne hat Simon die modernste Version dieses Weisheitsbuches vorgelegt.

Laozi: Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung. Chinesisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Rainald Simon. Reclam Verlag, Stuttgart 2009. 320 Seiten, 22,90 €.

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