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Politische Literatur: ’45, ’49, ’53, ’61, ’89

Friedrich Dieckmann über "deutsche Daten".

Immer wieder hat sich der Essayist Friedrich Dieckmann zu deutschen Fragen zu Wort gemeldet, einem Sammelband gab er gar den Untertitel „Vaterländische Beiträge“. So nimmt es nicht wunder, dass er zum Jubiläum der Maueröffnung erneut verstreute Essays unter dem Titel „Deutsche Daten“ sammelt, verbunden durch ein neues Stück unter dem Titel „Das Vertragsfest. Unser Nationalfeiertag“, in dem der Autor nach der Erörterung mancherlei Alternative doch den 3. Oktober würdigt: Er sei der „feiernswürdige Tag wiedererlangter nationaler Selbstständigkeit in jenen vernünftigen Schranken, die die europäische Friedensordnung der Souveränität ihrer Gliedschranken setzt“.

„Vernünftig“ – das ist überhaupt ein Schlüsselwort zu den Essays des nahe Ost-Berlin als Sohn eines prominenten DDR-Blockpolitikers aufgewachsenen Dieckmann. Er wägt ab und siehe, es ist nicht alles schlecht gewesen. Wie selten zuvor wagt sich der Autor ins Metier der Geschichtswissenschaft. Akribisch hat er die Periode zwischen Sommer 1952 und dem Juni-Aufstand 1953 studiert, als Ulbricht den „Aufbau des Sozialismus“ forcierte und am Ende beinahe von seinen sowjetischen Schutzherren gestürzt wurde – wenn nicht der 17. Juni dazwischengekommen wäre. Diese Dialektik der Geschichte spitzt Dieckmann gehörig zu. So erscheint bei ihm der Aufstand als eine letztlich vom Sowjet-Hochkommissar Wladimir Semjonow wenn nicht angezettelte, so doch gebilligte Intrige, um in Moskau den allzu mächtig werdenden NKWD-Chef Berija zu stürzen. Das gelang; Berija wurde neun Tage nach dem Aufstand verhaftet und, wie Dieckmann glaubt belegen zu können, noch am selben Tag erschossen. Der Vorwurf, der Berija auch in dem Schauprozess vom Dezember 1953 gemacht wurde, lautete auf versuchte Preisgabe der DDR.

Tatsächlich aber war Berija, der zuvor das Innenministerium NKWD und den Geheimdienst KGB unter seiner Hand vereinigt hatte, seinen Genossen im Politbüro zu mächtig geworden – und zu gefährlich, hatte er doch in seinem berüchtigten Tresor Dossiers über alle Konkurrenten. In der Betonung der Rolle Semjonows, die sich vor allem auf dessen 1995 publizierte Erinnerungen stützt, geht Dieckmann womöglich zu weit. Auch ist die Erkenntnis nicht ganz neu, dass Stalin ursprünglich keine eigenständige DDR haben wollte, sondern stets auf das ganze Deutschland zielte – bis zur berühmten Note vom März 1952, die dem westfixierten Adenauer solche Bauchschmerzen bereitete.

Dass Dieckmann den 9. November 1989 rundweg als Glückstag feiert, versteht sich angesichts seiner Biografie als ebenso kritisch-distanzierter wie durch Herkunft privilegierter DDR-Bürger von selbst. Er ist ein Bürger, daraus hat er nie einen Hehl gemacht. So imponiert ihm, dass Leonard Bernstein kurz nach der Maueröffnung in Berlin Beethovens Neunte dirigiert, mit dem bezeichnenden Versprecher, statt „Freude schöner Götterfunken“ „Freiheit“ zu sagen: „Es war die Geburtsstunde der neuen deutschen Nation.“ Wer würde das aus westlicher Sicht so emphatisch formulieren!

Dieckmann hält dem Leser eindringlich vor Augen, dass es die DDR-Bürger waren, die die Last der Kriegsfolgen zu tragen hatten, in Gestalt der maßlosen Reparationsleistungen, dann überhaupt in Form des Satrapenstaates DDR. Und er erinnert seine Ost-Fans daran, welches Glück ihnen die Wiedervereinigung beschert hat. Der Autor jedenfalls ist so ans Ziel gelangt: „Die Deutschen haben wieder werden dürfen, was sie wesentlich sind: sie sind in ihre kantisch beglaubigte Bescheidenheit zurückgetreten und sollten sich von niemandem einreden lassen, dass Stolz, und sei es Nationalstolz, eine positive Eigenschaft sei.“ Das ist ein protestantisch-aufgeklärtes Deutschland, das Dieckmann im Sinn hat, gewissermaßen eine ideelle Merkel-Republik. Es ist, nach den vom Autor sezierten Umwegen der Jahre ’49, ’53 und ’61, seit 1989 wahrlich nicht das schlechteste Ergebnis.

Friedrich Dieckmann: Deutsche

Daten oder Der lange Weg zum Frieden. Wallstein Verlag,

Göttingen 2009.

188 Seiten, 19,90 Euro.

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