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Politische Literatur: Harry Graf Kessler - Aristokrat des Geistes

Harry Graf Kessler hat seiner Epoche das Tagebuch geführt - mit dem Drang, die Reichen und Schönen einzubeziehen. Doch die Biografie von Friedrich Rothe kann sein Leben nicht entschlüsseln.

An die 12 000 Namen, so heißt es, finden in den Tagebüchern Harry Graf Kesslers Erwähnung. Der Drang, die Reichen und Schönen, die Klugen und die Künstler einzubeziehen in den Kosmos des eigenen Lebens, führt mitunter zu irritierenden Konstellationen. So im Februar 1926 in Berlin, als private Abende mit der tanzenden Josephine Baker, Abendessen mit Albert Einstein und Gespräche über den Völkerbund in Genf einander abwechseln, gefolgt von der lakonischen Eintragung: „Abends wieder in der Negerrevue bei Nelson.“ Seit der Auswahlausgabe von 1961 gelten die über mehr als ein halbes Jahrhundert, von 1880 bis zu des Grafen Tod Ende 1937 geführten Tagebücher als unvergleichliche Quelle zur deutschen Gesellschaftsgeschichte vom Wilhelminismus bis zur Hitler-Barbarei.

Von diesem gepflegten Bild indessen sind Abstriche zu machen, wie inzwischen deutlich wird, da die Tagebücher durch die noch unabgeschlossene, vollständige und um die bis 1987 testamentarisch zurückgehaltenen frühen Bände bereicherte Neuherausgabe zur Gänze bekannt werden. Denn was vermitteln die Aufzeichnungen des rastlos zwischen Berlin, London, Paris und etlichen anderen Weltorten bis hin nach New York Hin- und Herreisenden? Den Abglanz einer „Welt voll Licht und Schönheit“, wie der frühe Tagebuch-Herausgeber Wolfgang Pfeiffer-Belli schrieb? Oder dominiert im Gegenteil das lebenslange „Gefühl der Einsamkeit“ Kesslers, der sich kaum je erlaubte, „die eigene verzweifelte Situation auszusprechen“?

So jedenfalls sieht es der Berliner Germanist Friedrich Rothe, der Harry Graf Kessler eine Biografie gewidmet hat, die von heute an im Buchhandel ausliegt. Kein leichtes Unterfangen, hat doch der amerikanische Historiker Laird M. Easton ebenso eine Lebensbeschreibung gewagt, die unter dem programmatischen Titel „Der rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit“ erst vor gut zwei Jahren ins Deutsche übertragen wurde (Klett-Cotta, Stuttgart, 575 S., 39,50 €). Easton hat den Anspruch, eine politische Biografie zu schreiben und in der Person zugleich die Zeit zu spiegeln. Rothe hingegen kann seine Stärke der literarischen Annäherung ausspielen und die Beziehungen des anregenden und fördernden Grafen zu Dichtern und Literaten mit einfühlsamen Darstellungen der ästhetischen Positionen verbinden.

Kesslers Grundzug ist das Scheitern, vordergründig infolge seiner Ruhe- und Ziellosigkeit, die ihn stets mehrere Vorhaben gleichzeitig anstoßen ließ. Doch zugleich war der 1868 in Paris geborene Sohn eines von Kaiser Wilhelm I. geadelten Bankiers und einer anglo- irischen Mutter von Herkunft und Erziehung an den vornehmsten Schulen Europas her ein Außenseiter. Bezeichnend, dass er in seinen Tagebüchern wie beiläufig von seinen Beziehungen zu allen Zelebritäten seiner Zeit spricht, tatsächlich aber stets darauf besonnen war, sie zu pflegen und auszubauen, wobei ihm sein stattliches Erbe mehr als zupass kam.

Kessler scheiterte bereits als junger Jurist beim Versuch, in den diplomatischen Dienst, die ihm einzig angemessen erscheinende Beschäftigung, aufgenommen zu werden. Sein – lebenslang beibehaltener – Junggesellenstand bot konservativen Widersachern einen billigen Vorwand. Kessler scheiterte in seinem danach gewählten Lebensberuf als Künstler-Mentor in Weimar, erst in seinem Versuch, über die Leitung des Großherzoglichen Kunstmuseums ab 1903 ein „drittes Weimar“ kulturellen Fortschritts zu schaffen, dann mit dem Projekt eines gewaltigen Nietzsche-Denkmals.

Enttäuschung ist ein – wenngleich stets durch nachträgliche Verallgemeinerung geschönter – Grundzug in Kesslers Leben. Nicht einmal die exzessive Reisetätigkeit, bis hin nach Japan, Indien und den Orient, kann ihn befriedigen. „Schon wir kommen kaum noch aus unserer Zivilisation heraus, das Bild bleibt sich von Weltteil zu Weltteil erstaunlich gleich“, schrieb er 1911. Richtig ist, dass Kessler nie aus seiner spezifischen Zivilisation zwischen europäischer Aristokratie, preußischem Eliteregiment und, nach dem Ersten Weltkrieg, politischem Zaungastdasein als Entwerfer hochgespannter Friedensprojekte herausfand. Die künstlerisch hochambitionierten Projekte, mit Henry van de Velde, Hugo von Hofmannsthal oder Aristide Maillol, endeten fast immer enttäuschend und vermochten die stets anbrandenden Sinnkrisen nie ganz in Schach zu halten.

Den Versuch, diesem Leben, so atemlos erlebnisreich es auch war, einen historischen Sinn zu geben, unternimmt Rothe nicht. Er erzählt, was geschah, stark in der Darstellung der hoffnungsfrohen Weimarer Aktivitäten um 1900, eher nur berichtend die späten Jahre des gescheiterten Reichstagskandidaten und Privatdiplomaten nach 1918. Der Frage jedoch, was den roten Faden dieser Vita bildet, weicht Rothe aus. Seine stilsicher geschriebene Biografie verstärkt nur den Eindruck, der sich bei der Lektüre der Tagebücher einstellt: den einer Geschäftigkeit, der der Mittelpunkt einer unverlierbaren Identität fehlt. Kessler hat sie stets zu konstruieren gesucht. Dass er die eigene Person in seinen Tagebüchern so auffällig ausspart, bezeichnet die Lücke, die ihm untergründig wohl stets bewusst war. Rothes Biografie kann sie erzählen, aber nicht schließen.









– Friedrich Rothe:
Harry Graf Kessler. Biographie. Siedler Verlag, München 2008. 350 Seiten, 22,95 Euro.

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