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Reich-Ranicki und Polen: Die halbe Heimat

Doch mehr als ein halber Pole? Warschau-Korrespondent Gerhard Gnauck hat ein Buch über Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre geschrieben.

Als Marcel Reich-Ranicki 1958 erstmals an einem Treffen der Gruppe 47 teilnahm, entgegnete er auf die Frage von Günter Grass, was er eigentlich für ein Landsmann sei: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.“ Inzwischen gehört dieser Ausspruch zum Kanon von Reich-Ranickis Biografie, und Gerhard Gnauck hat ihn folgerichtig seinem Buch über Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre vorangestellt. Trotzdem lässt sich Gnaucks Buch „Wolke und Weide“ unter anderem als der Versuch lesen, aus dem großen Literaturkritiker mehr als nur einen halben Polen zu machen. Würde bei Reich- Ranicki doch „unter der Wolle des Juden aus Polen, der zum Literaturpapst der Deutschen avancierte“, das Land an der Weichsel mehr als nur durchschimmern: „Er war, auch wenn er sich aus einem ganzen Knäuel von Gründen nicht recht dazu bekennen mochte, reicher als viele andere: Er war reich an Heimat.“

Gerhard Gnauck, seit 1999 Polenkorrespondent der „Welt“, möchte mit „Wolke und Weide“ dieses „Knäuel von Gründen“ entwirren. Gnauck konzentriert sich vor allem auf die Zeit zwischen 1938, da der 1920 in Wloclawek geborene Reich-Ranicki mit seiner Familie von den Nazis von Berlin nach Warschau deportiert wird, und 1958, als er mit Frau und Sohn Polen den Rücken kehrt. Es sind dies die Jahre, in denen Reich-Ranickis Biografie die meisten Lücken aufweist. In diesen Jahren trat Reich-Ranicki der kommunistischen Partei bei, machte er beim polnischen Geheimdienst Karriere – in diesen Jahren kämpfte er vor allem aber auch ums Überleben, im Warschauer Ghetto und bei der Familie Gawin, die ihn und seine Frau von Juni 1943 bis September 1944 im Keller ihres Hauses in Warschau versteckte.

Gnauck betont, sich nicht dem „Weltbild und Selbstbild“ Reich-Ranickis unterwerfen zu wollen, das dieser in seiner (jetzt auch mit Matthias Schweighöfer als Reich-Ranicki verfilmten) Autobiografie „Mein Leben“ gezeichnet habe. Er wolle mehr Licht in das Dickicht bringen, das aus den Augenblicken und Lebensabschnitten besteht, über die Reich-Ranicki nicht so gern rede. Und er porträtiert dann den Kritiker als einen Menschen, der früh das Fürchten gelernt habe, der mehrmals bei null anfangen musste. Der aber auch zu herrschen weiß und „noch aus der allergrößten Ohnmacht in die Position der jeweils größtmöglichen Macht emporgeschnellt ist“.

Gnaucks Vorhaben ist genauso legitim wie letztendlich Reich-Ranickis langes Schweigen über manche Episode seines Lebens. Warum hätte er damit hausieren gehen sollen? „Wolke und Weide“ hat dennoch stellenweise – bei aller Hochachtung Gnaucks für Reich-Ranickis Lebensleistung, bei allem Verständnis für dessen Volten – ein gewisses Geschmäckle. Gnauck insinuiert immer wieder mal, dass Reich-Ranicki tiefer in die Geheimdienstarbeit verstrickt war, als er zugegeben hat, (gerade nach der viel diskutierten Aufdeckung seiner Tätigkeit 1994), ohne bei aller akribischen Recherche letztgültige Beweise liefern zu können.

Eine „merkwürdige Mission“ etwa nennt Gnauck die Zeit von Januar bis April 1946, da Reich-Ranicki als Angehöriger des Sicherheitsdienstes für das polnische Kriegsentschädigungsbüro in Berlin tätig war. Spricht dieser in „Mein Leben“ von einer „traurigen und einsamen Zeit, erschreckend, doch bisweilen beglückend“, so legt Gnauck nahe, dass er unter dem Decknamen „Platon“ Berichte über Kollegen angefertigt habe. Diese endeten zu jenem Zeitpunkt, als Reich-Ranicki abberufen wurde. Gnauck muss aber auch eingestehen: „Eine Karteikarte, die den Decknamen zuordnet, ist bisher nicht aufgetaucht.“

„Kühn“ wiederum nennt er die Aussage Reich-Ranickis, nichts zu bereuen, und die Behauptung, niemals jemanden geschadet, aber eben auch, etwa als Konsul an der polnischen Botschaft in London, keinem wirklich geholfen zu haben. Die Frage danach hat Reich-Ranicki erzürnt zurückgewiesen: „Ich hatte doch gar nicht die Möglichkeiten dazu!“ Und auch als Reich-Ranicki nach seiner Abberufung aus London, seinem Ausschluss aus der Partei und einem vorübergehenden Berufsverbot als Kritiker endgültig Polen verlässt und seine Ausreise für die Behörden anscheinend sehr offensichtlich organisiert (zur selben Zeit, als Frau und Sohn nach London fliegen, beantragt er ein Visum für die Bundesrepublik), fragt Gnauck: „War es Schlamperei? Oder hat Ranicki seine Beziehungen spielen lassen? Warum diese Flucht gelang, werden wir wohl nie erfahren.“

Solche offenen Enden, so ein spekulierendes Geraune, die suggerieren, Reich- Ranicki habe manchen Makel bewusst überschminkt oder getilgt, verdecken leicht, dass Gnauck ein sensibles Porträt Reich-Ranickis zeichnet (und auch von Teofila, die ein eigenes Kapitel erhält) und so einen Ausschnitt aus der belasteten deutsch-polnischen Geschichte anschaulich darstellt. Reich-Ranickis Leben gerade bis 1958 ist ein abenteuerliches, zuweilen unglaubliches, und es mag nicht immer frei von Widersprüchen gewesen sein.

Es ist trotzdem ein für die deutsch- polnisch-jüdische Geschichte exemplarisches Leben und kann nicht oft genug erzählt werden. Als sein „portatives Vaterland“ hat Reich-Ranicki die deutschsprachige Literatur bezeichnet, sie wurde seine ultimative, wenngleich virtuelle Heimat. Dass sich dahinter eine reale polnische Heimat verbirgt, dass Marcel Reich-Ranicki allen Schrecken und Schwierigkeiten in Polen zum Trotz vielleicht mehr als nur ein halber Pole ist, lässt sich nach der Lektüre von Gnaucks Buch gut nachvollziehen.

Gerhard Gnauck: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart. 288 Seiten, 22,90 €.

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