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Wheeler

© D. Wisken

Reiseführer: Mein Ort. Irgendwo

Mit dem Lonely Planet auf Weltreise. Die Geschichte des erfolgreichsten Reiseführers der Gegenwart.

Sie haben im mexikanischen Dschungel den letzten Bus verpasst? Oder ein Agent versucht Ihnen in Ihrem ägyptischen Hotel einen ganz besonderen Pyramidentrip zu verkaufen? Für solche Fälle gibt es kein Patentrezept. Indes aber eine schusswaffenfreie Überlebenshilfe. Es ist ein Buch, das unterwegs bisweilen zum Buch der Bücher wird. Es heißt „Lonely Planet“, und wenn wir bei dem einsamen Planeten mit dem Urknall beginnen, dann fängt die schönste Reiseliteratur-Geschichte der Gegenwart mit einem popmusikalischen Hörfehler an. Oder noch romantischer: Sie beginnt auf einer Bank im Londoner Regent’s Park.

Dort begegnen sich Anfang der siebziger Jahre der gerade fertig studierte Jungingenieur Tony Wheeler und die zwanzigjährige Maureen, die vor drei Tagen ihre Heimatstadt Belfast und einen Job als Versicherungssekretärin verlassen hatte. Vielleicht fragt sie ihn nach dem Weg oder nach einer erschwinglichen Unterkunft. So wird er zum Guide und werden beide zum Paar. Nach einer schnellen Heirat pfeifen Tony und Maureen auf alle beruflichen und familiären Sicherheiten und nehmen als Rucksacktouristen die damals beliebte Hippie-Route über Afghanistan nach Indien, reisen weiter durch Ostasien und landen nach einem Jahr mit angeblich nur noch 27 Cent in Australien.

Als Microsoft-Gründer Bill Gates etwa zwei Dekaden später Australien besucht, da möchte er, auch das ist eine hübsche Legende, vor allem drei Leute treffen: wohl eher wirtschaftspolitisch motiviert den Premierminister – und aus natürlicher Neugierde, also von Pionier zu Pionier, die Wheelers. Die zwei nämlich haben mittlerweile einen für wahre Weltreisende ziemlich unentbehrlichen Reisebegleiter erfunden. Den „Lonely Planet“. Ursprünglich hatten die Wheelers nur das Reisetagebuch ihrer einjährigen Backpacker-Erfahrungen im Selbstverlag verarbeitet: „Across Asia on the Cheap“ gab preiswerte und praktische Trip-Tipps für vornehmlich jüngere Billigtouristen. Wobei die Bildung, die Neugier auf Menschen, Natur und Kulturen nicht zu kurz kam, das jedoch frei vom Schmock exotisierender Dritteweltladenhüter. Das Buch wurde in Australien zum regionalen Bestseller, es finanzierte den zwei Reiselustigen weitere anderthalb Jahre Südostasien aus der Rucksacktasche. Und danach wird ein Folgeband so erfolgreich, dass der vor nunmehr 35 Jahren gegründete, Hobby, Beruf und Berufung vereinende Verlag Lonely Planet allmählich zum Weltunternehmen aufsteigt.

Über 270 Länder- und Städtereiseführer haben die Wheelers inzwischen neben anderen Touristiktiteln im Programm. Mehr als 400 Autoren schreiben rund um den Globus für Lonely Planet, es gibt die Führer inzwischen auch auf Französisch, Spanisch, Italienisch, Chinesisch, Koreanisch, Japanisch – und seit einem Jahr auch auf Deutsch. Mit zwölf Bänden begann diese Eroberung des Reiseweltmeisterlandes, das Startprogramm reichte von Bänden über Argentinien, Australien und Bulgarien bis hin zu „Toskana & Umbrien“.

Inzwischen sind es rund 40 Titel, zum Teil für den deutschen Markt leicht bearbeitet, aber im Prinzip ganz getreuliche Übersetzungen jener angelsächsischen Originalausgaben, in denen der Altsouler Joe Cocker unhörbar mitsingt: „Once I was traveling across the sky / This lovely planet caught my eye / And beeing curious I flew close by...“ Das ist von 1970, Cocker gibt da den „Space Captain“ im Album „Mad Dogs and Englishmen“, was wohl zum gebürtigen Briten und Reise- narren Tom Wheeler passt. Der Song brachte ihn damals auf seinen Verlagsnamen, nur hatte er sich bei der zweiten Textzeile leicht verhört. Weshalb der reizende Erdball zum einsamen, aber irgendwie auch einzigartigen wurde.

Jeder one and Lonely Planet ist ein Paperback im Format von knapp 20 x 13 cm und meist deutlich dicker als konkurrierende Reiseführer. Deshalb sollten die enthaltenen Informationen das Gewicht schon aufwiegen. Was aber dürfen wir von einem Reiseführer überhaupt erwarten? Hier wird es sofort: objektiv subjektiv. Denn ein Travelguide spricht keine Gottesurteile (nicht mal der Kochmützen-Michelin) und ist, trotz aller Daten- und Faktenfülle, auch keine neutrale Nachrichten-Agentur. Und ein wissbegieriger Leser, gerade in der Ära des Massentourismus, möchte sich wenigstens hier, auf dem Papier, noch als Individualreisender fühlen.

Eben diesen Wunsch und seine Erfüllung versuchen einem neuere Reiseführer, zum Beispiel einige populäre deutsche, dadurch einzureden, dass sie grell herausgehoben mit ihren „Geheimtipps“ oder „Insidertipps“ angeben. Das ist natürlich reiner Blödsinn. Was sonst, wenn nicht den Rat eines „Insiders“, erwarte ich als ortsfremder Outsider von einem Reiseführer? Für den Touristen mit eigener Ortskenntnis geht’s dagegen bestenfalls um den Schmeichel-Test: Aha, die haben entdeckt, was ich schon selbst entdeckt habe! Und wer sich nicht auskennt, trifft nun auf Seinesgleichen – das haben öffentliche „Geheim“-Tipps so an sich.

Dies freilich führt zum zweiten Grundwiderspruch einer Spezies von Literatur, der man ja beim Aufbruch ins Unbekannte immer auch ein Stück neues, gelungenes Leben mitverdanken will. Alle guten Reiseführer brauchen darum nicht nur eine gewiefte Redaktion. Sie brauchen zuallererst einen Autor, der beim Lesen Neugier weckt, Vertrauen schafft und womöglich sogar Vergnügen macht. Wer aber gut schreibt, gut reist und vom guten Leben irgendwo eine Ahnung hat, verrät normalerweise als Allerletztes seine Lieblingsorte. Bestimmte Lokale und Lokalitäten, sind sie wirklich noch nicht jedermanns Sache, die erzählen wir eigentlich nur guten Freunden weiter. Der Autor eines guten Reiseführers hat also etwas von einem indiskreten Masochisten oder sehr menschenfreundlichen Verräter. Er teilt mehr mit, als ihm lieb sein dürfte, und der gebildete Urtyp eines Reiseführers ist der Cicerone. Das italienische Wort meint einen kundig beredten, auch etwas redseligen Menschen, in Anspielung auf die Mitteilungsfülle des antiken Herrn Cicero.

Auch Deutschlands berühmtester Cicerone ist bei uns lange Zeit zum Synonym für einen Reiseführer geworden. Als der Koblenzer Verlagsbuchhändler Karl Baedeker 1835 in der überarbeiteten Fassung einer früheren „Rheinreise von Mainz bis Cöln“ („Handbuch für Schnellreisende“) seinen ersten Führer vorlegte und nunmehr Eisenbahnfahrer und Dampfschiff- reisende die Welt zu erobern begannen, da galt ein „Baedeker“ bald als unentbehrlich. Und wer heute in die rotgebundenen Handbücher mit Goldprägung aus vergangenen Zeiten schaut, wird selbst zum Zeitreisenden. Dabei erscheint es als Wunder, welche Informationsfülle etwa die Bände zu Beginn des 20. Jahrhunderts enthalten. Nie ist das für Mitteleuropäer damals noch so ferne, archaische Griechenland unter unsäglichen Mühen und mit schier unfasslicher Sorge ums winzigste Detail kenntnisreicher und schöner beschrieben worden als im legendären Griechenland-Baedeker von 1908, an dem auch Wilhelm Dörpfeld, der neben Heinrich Schliemann berühmteste deutsche Archäologe, mitgeschrieben hat.

Von solchen Standards sind die meisten heutigen Reiseführer trotz ihrer neuen Datenbasen unendlich weit entfernt. Sie sind layouttechnisch raffinierter geworden, aber was die Präzision von Texten und oftmals sogar Karten und Plänen angeht, viel dürftiger. Vor allem hat sich der reine Kunstführer vom generalistischen Reiseführer abgespalten, womit sich Hochkultur- und Lebenskultur eher künstlich trennen und in den Spezialführern die zeitgenössische Kunst und Architektur eines Landes kaum vorkommen.

Lonely Planet versucht, die Ebenen von E- und U-Kultur, von Ferienfaulheit und Bildungsanstrengung, von Backpacker-Interessen und bürgerlichem Komfortanspruch zu verbinden: mit einer Mischung aus angelsächsischer Pragmatik, manchmal auch distanzierter Ironie, mit viel sachlicher Information (über Preise, Verkehrsmittel, Abfahrzeiten von Bussen selbst im mittelamerikanischen Dschungel oder innerindische Flugverbindungen), dazu klar gestaffelte Kategorien bei Hotels und Restaurants und Rubriken wie etwa „Gefahren & Ärgernisse“.

Daran sieht man: Hier schreiben schon mal keine verkappten PR-Autoren. Auch wenn es etwa beim neuen „Berlin“-Führer Flausen gibt wie die Rede von der einst verschüchterten, linientreuen Ost-Lehrerin, „die jetzt eine Immobilienmagnatin ist mit am Ohr festgewachsenen Handy und einer schicken Villa auf Capri“. Auch weiß man nicht, weshalb unter den Spitzenrestaurants der Stadt allein das „Margaux“ firmiert oder warum der RegisseurMichael Thalheimer in einem kurzen Quatsch-Artikel übers Deutsche Theater für den Intendanten gehalten wird. Auch bei Stichproben im Italien-Band oder über Paris kann man unter zahllosen verdienstvollen Einzelheiten immer ein paar Haarsträuber entdecken. Fehlt uns etwas in Ligurien, dann überrascht dafür eine Wahrnehmung in den Abruzzen. Reiseführer sind halt Fundgruben – für Connaisseurs wie für Korinthenkacker.

Der internationale Erfolg begann für Wheelers Lonely Planet vor 25 Jahren mit dem englischen, jetzt in der aktuellen Ausgabe auch auf Deutsch übersetzten, mehr als tausendseitigen Band über Indien. Der war vor zwei Jahrzehnten auch meine Initialzündung. Noch heute kann man da lernen, dass eine Stadt wie Kalkutta eben nicht nur ein Monster aus Armut und Umweltverpestung ist, sondern ein Stück Intellekt und Seele des Subkontinents, zudem mit „einigen der besten Restaurants Indiens“. Wer also im Labyrinth der Wirklichkeit, das auch Handys und Internet noch nicht gänzlich durchdringen, einen Einstieg braucht,der hat ihn hier. Als Nachfahre von Odysseus, Sinbad, Marco Polo, Karl Baedeker und den Wheelers.

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